Lars Eidinger: Kein Schauspieler ist so wandlungsfähig wie er

Psychopath, Hamlet oder Dichter: Lars Eidinger kann sie alle spielen – ein Blick auf seine stärksten Rollen und was man 2018 noch von ihm erwarten kann.

In „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ (Dt. Kinostart: 13.9.) spielt Lars Eidinger (42, „Terror – Ihr Urteil“) den deutschen Dichter Bertolt Brecht – und beweist damit einmal mehr, dass er kostbar für die hiesige Filmlandschaft ist.

Der grösste Schauspieler der Welt

Es gibt Leute, die halten ihn tatsächlich für einen Kotzbrocken. Das sind meistens die Leute, die ihn nie live erlebt haben. Und falls doch, haben sie im Theater mal eben an ihrem Smartphone rumgefummelt, während er auf der Bühne den Hamlet gab und dann vor Zorn explodierte. Es sind auch die Leute, die es ihm übel nehmen, wenn er sagt, er sei der grösste Schauspieler der Welt – und dabei kaum Zweifel an dieser Aussage zulässt.

Vermutlich sind es die Leute, die ahnen, wie sinnlos ihre innere Gegenwehr gegen seine Kunst ist, denn laut „Stern“ weiss „kaum ein Schauspieler […] sein Publikum so einzunehmen wie Lars Eidinger“. Zurzeit spielt der 42-Jährige im grossen Kino-Epos „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ den deutschen Dichter Bertolt Brecht (1898-1956). Eidinger ist Brecht. Mit Kurzhaarschnitt, Brille, Ledermantel und der unvermeidlichen Zigarre. Er verkörpert den grossen Dramatiker so überzeugend, dass die Vorstellung, ein anderer könnte diese Rolle ebenso brillant ausfüllen, erst gar nicht aufkommt.

Dabei gibt Eidinger selbst zu: „Ich sehe Brecht ja offenkundig gar nicht ähnlich. Aber vielleicht ist es ja interessant zu sehen, wie ich mich an ihm abarbeite“, sagte er der „Berliner Morgenpost“. Er habe „auch kein Talent zur Imitation, ich kann niemanden nachspielen. Aber darum ging es auch nicht. Sonst hätte mich der Regisseur Joachim A. Lang auch nicht besetzt.“

Brecht als Vorbild

Lars Eidinger wollte auch nicht an seinem Idol kratzen. „Für mich ist Brecht ein Vorbild, der ist mir heilig. Ich wollte auf keinen Fall auf ein Klischee hereinfallen oder einem Image auf den Leim zu gehen.“ Das schönste Kompliment sei gewesen, als Mitspieler Joachim Krol (61) am Ende meinte, „ich hätte sein Bild von Brecht komplett auf den Kopf gestellt.“

Sich an einer Figur abarbeiten. Das ist die Stärke des Lars Eidinger. Das ist ihm gegeben wie keinem anderen. Er spielt den orientierungs- und planlosen Mittdreissiger (in „Alle anderen“ und „Was bleibt“) ebenso wandlungsfähig wie den einfühlsamen Mörder („Tatort – Haus des Todes“) oder eine innerlich zerrissene Transsexuelle („Polizeiruf 111 – Der Tod macht Engeln aus uns allen“). Seine Mitwirkung machten die „Tatort“-Episoden „Borowski und der stille Gast“ und „Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes“ zu Glanzstücken des deutschen TV-Films. Lars Eidinger spielte den Serienmörder Kai Korthals derart überzeugend, dass die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb: „Eine Verbrecherfigur wie Kai Korthals aber darf gerne an den Ort der Tat wiederkehren, auch die nächsten vierzig Jahre noch.“

Er selbst meint dazu gegenüber „zeit campus“: „Natürlich gibt es Figuren, die einem eher liegen. Aber besonders reizen mich expressive, extreme Charaktere und Psychopathen. Das finde ich interessanter, als immer nur den Alltag nachzuspielen.“ Eigentlich wollte er Popstar werden, zumindest als Kind träumte der gebürtige Berliner vom eigenen Starschnitt in der „Bravo“. „Ich habe schon in der Schule säckeweise Liebesbriefe bekommen, ich muss also eine besondere Wirkung auf andere haben“, sagte er dem Stern. Für ihn ist das „ein Mysterium, denn ich entspreche ja keinem Schönheitsideal. Ich habe eine Begabung, aber auch ein Gesicht, das sich wunderbar eignet, es ist so flächig, es lässt sich alles Mögliche hineininterpretieren. Und meine Augen sind traurig, dabei bin ich ein lustiger Typ. Vielleicht ist es das, ich bediene das Konzept des traurigen Clowns.“

Nach der Schule – und ersten Erfahrungen als Kinderdarsteller in der Jugendsendung „Moskito“ – ging er 1995 zum Studium an die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, gemeinsam mit in etwa gleichaltrigen und später ebenso bemerkenswerten Kollegen wie Devid Striesow, Fritzi Haberlandt, Nina Hoss und Mark Waschke. Nach dem Abschluss 1999 hat der junge Eidinger am Theater seine eigentliche Heimat gefunden. Da war er in Fachkreisen bereits bekannt. Unter den Angeboten wählte er das Theater der Berliner Schaubühne aus. Diesem Theater ist er bis heute treu geblieben.

„Ich nehme auf der Bühne alles wahr“

Lars Eidinger ist der Star der Schaubühne. Sein Regisseur und Förderer Thomas Ostermeier hat in ihm einen Hamlet gefunden, der in die Theatergeschichte eingehen wird. Und der auch nicht vor dem Publikum Halt macht. „Es ärgert mich, dass manche Zuschauer nicht verstehen, dass Theater ein Austausch zwischen Spielern und Publikum ist“, sagte er im Interview mit „zeit campus“. „Ich nehme auf der Bühne alles wahr, was um mich herum passiert. Es würde mich einschränken, nicht darauf reagieren zu dürfen. Zum Beispiel wenn jemand mit seinem Handy spielt. Ich sehe dann angeleuchtete Gesichter im Zuschauerraum, das macht mich ganz irre. Oder wenn jemand rausgeht. Es wäre paradox, mich auf der einen Seite dem Publikum zu öffnen und auf der anderen Seite so zu tun, als würde ich von ihm nichts mitbekommen. Wenn jemand rausgeht, ist das ungefähr so, als würde sich meine Partnerin beim Geschlechtsakt heimlich davonstehlen. Da werde ich doch fragen dürfen, wo sie hinwill.“

Bei einem Gastspiel in einem Londoner Theater ist er sogar von der Bühne in die Zuschauerränge hinabgestiegen. „Das mache ich beim Hamlet immer. Aber im Barbican Centre in London musste ich über die Stuhllehnen balancieren. Um den Leuten nicht auf den Kopf zu treten, habe ich nach unten geschaut, bin voll gegen einen Betonbalkon gelaufen und bewusstlos geworden. Als ich wieder zu mir kam, habe ich gemerkt, dass zwischen dem Kunstblut echtes Blut meine Stirn runterlief. Ich habe heulend weitergespielt. Die Leute haben gelacht, sie dachten, das gehört zum Stück dazu! Dabei hatte ich eine Gehirnerschütterung.“

Seine Freunde beschreiben ihn als liebenswerten Ehemann, Mann und Vater – einer Tochter mit der Opernsängerin Ulrike Eidinger. Das Image vom beliebten aber ziemlich abgehobenen Bühnenstar können sie nicht verstehen. „Das meiste, was über mich geschrieben wird, hat nichts mit mir zu tun“, sagt er im „Stern“. Leute, die ihn kennen, wunderten sich über das, was da über Lars Eidinger verbreitet werde.

Der Herbst 2018 wird ein regelrechtes Eidinger-Festival mit Auftritten in „Mackie Messer“, dem Thriller „Abgeschnitten“, der Komödie „25 km/h“, in Florian Henckel von Donnersmarcks Film „Werk ohne Autor“ sowie in der Serie „Babylon Berlin“. Ist diese Flut nicht etwas zu viel für einen Charakterdarsteller? Über diese Art von überhöhter Kritik kann Lars Eidinger nur lachen: „Die Leute sagen immer: ‚Du machst zu viel, mach‘ mal ein bisschen weniger‘. Aber das ist doch mein Beruf! Zu jemandem, der auf dem Bau arbeitet, würde man das auch nicht sagen. Ich arbeite einfach gern. Auch, um Geld zu verdienen. Ich denke jedenfalls nicht in Kriterien wie: ‚Ich mach mich jetzt rar und damit interessanter‘. Solch karrieristisches Denken liegt mir fern“.

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