DDR-Musik: Engagierter, tiefgründiger – besser?

Am 3. Oktober feiert Deutschland 30 Jahre Wiedervereinigung. Wie ist es den berühmten DDR-Bands nach der politischen Wende ergangen?

Der 3. Oktober vor 30 Jahren: Tag der deutschen Einheit. Das ganze Land ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen? Klar, vor dem Reichstag und anderen symbolträchtigen Plätzen. Dort, wo die Politiker und „all die anderen grossen Einheitsmacher in den Nationalfarben schwelgen“ und „die mutigen ostdeutschen Wendemacher schon längst an den Rand der Bühne gedrängt haben“, schreibt die Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“.

Ein Zeitzeuge beschreibt den ersten Nationalfeiertag in dem Beitrag aus seiner Sicht: „Berlin ist wieder mal voller Touristen. Die meisten von ihnen flanieren zum Brandenburger Tor, wo mit Bierständen und Schlagermusik eine Art Tag der deutschen Currywurst gefeiert wird.“ Was hörte man da für Musik? Was klang da aus den Lautsprechern und dem Radio? Ein Blick auf die Jahres-Hitparade 1990 der bis zum 2. Oktober noch existierenden DDR, es ist der Blick in ein anderes Land.

Die Hits aus dem Jahr 1990

Nr. 1: Die Band Rockhaus mit „Wohin?“, Textprobe: „Fetter Arsch, dicker Luxus, hochgestylter Macho – weit weg von dem, was damals war. Wo sind sie hin, die ganzen Träume, wo sind sie hin, sag mir wohin?“ Nr. 2: Die Gruppe Keimzeit mit „Irrenhaus“, Textauszug: „Irre ins Irrenhaus, die Schlauen ins Parlament. Selber schuld daran, wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt.“ Nr. 3: Die Band Karussell mit „Marie“, Textprobe: „Marie, die Mauer fällt, wir kommen uns näher und näher. Die mit den Träumen und die mit dem Geld, die finden sich früher oder später.“

Zur gleichen Zeit offenbaren die West-Charts eine entgegengesetzte Welt: Nr. 1 Matthias Reim mit „Verdammt, ich lieb dich“, Nr. 2 UB40 mit „Kingston Town“, Nr. 3 Nick Kamen mit „I Promised Myself“ und als Nr. 4 die Wildecker Herzbuben mit „Herzilein“. Der Unterschied war mehr als verblüffend. Während der Musikgeschmack im ehemals sozialistischen Osten eindeutig zu Bands tendierte, die das aktuelle deutsch-deutsche Geschehen thematisierten, zog man im Westen weichgespülte Wohlfühlmusik vor.

Bands wollten sich nicht in eine Schablone einfügen

Hatte man das eigentlich nicht eher umgekehrt erwartet? Hatte nicht die DDR-Führung moderne Musik als „amerikanische Unkultur“ und dekadenten „Dreck aus dem Westen“ verfemt? Forderten nicht die Ostberliner Regierung und die Einheitspartei SED eine ideologisch angepasste, DDR-typische Rockmusik?

Das ist der DDR-Führung nur sehr bedingt gelungen. „Es ging den Musikern und ihrem Publikum immer auch darum, dass man sich nicht in eine Schablone einfügen wollte“, schrieb die „Neue Musikzeitung“. „Die – auf Anordnung der Regierenden – vorwiegend deutschen Texte taten dazu ihr Übriges. Häufig metaphorisch auch eine Form von Widerstand transportierend hatten sie in der DDR eine grössere Bedeutung als zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik.“ Birgit Jank, Professorin für Musikpädagogik an der Universität Potsdam, glaubt, dass Rockmusiker in der Wendezeit ihren Teil zur friedlichen Revolution von unten beigetragen haben.

Zudem lieferten die Musiker Zustandsbeschreibungen der Ost-West-Befindlichkeiten. „Im halben Land und der zerschnittenen Stadt, halbwegs zufrieden mit dem, was man hat. Halb und halb“, sang die Ostberliner Band City in „Halb und halb“ bereits 1987. Das lag sicher nicht auf Parteilinie.

Petra Zieger und ihre Wiedervereinigungshymne

Im Westen Deutschlands hat man solche Töne kaum wahrgenommen. Und wenn, dann wurden sie oft mehr oder minder abfällig als „Ostalgie“ bezeichnet und belächelt. Eine Mauer in den Köpfen? Bezeichnend dafür ist die Wiedervereinigungshymne „Das Eis taut“ der Rocksängerin Petra Zieger (61) von 1989. Der Erfolg dieses Songs war in Amerika ungleich grösser als in Westdeutschland. Zieger wurde in die USA eingeladen und sang in Philadelphia vor 500.000 Menschen.

Viele talentierte Musiker aus dem Osten haben die Wiedervereinigung wirtschaftlich nicht lange überlebt. Nicht so Petra Zieger. Sie tritt immer noch mit ihrer Band auf und tourte zuletzt 2015 durch Deutschland. Der Berliner Musik- und Kulturjournalist Olaf Leitner schrieb, im Osten Deutschlands sei ein Musikschatz verborgen. Das gilt nicht nur für „Rock aus Deutschland Ost“, wie ein Label für Musiker aus dem Osten heisst.

Was wurde aus den Bands?

2005 stellte das ZDF „Unsere Besten – Jahrhunderthits“ vor. Unter die ersten 16 kamen fünf DDR-Songs: Nr. 2 „Über sieben Brücken musst du gehen“ von Karat, Nr. 6 „Alt wie ein Baum“ von den Puhdys, Nr. 13 „Am Fenster“ von City, Nr. 15 „Als ich fortging“ von Karussell und Nr. 16 „Jugendliebe“ von Ute Freudenberg und der Band Elefant.

Elefant wurde bereits in den 1980ern aufgelöst, Ute Freudenberg ging 1984 in den Westen, die Puhdys, die populärste Ost-Band, gaben 2016 ihr letztes Konzert – nach 47 erfolgreichen Jahren. Freygang, eine der herausragenden Blues-Rock-Bands, hielt bis letztes Jahr durch. Die Band Electra, die in den 1990er-Jahren durch den IM-Stasi-Skandal ihres Sängers Manuel von Senden belastet waren, hörte 2015 auf.

Dafür haben sich die Klaus Renft Combo, gegründet 1958, oder Scirocco (1964) über Jahrzehnte gehalten. Die im Osten populären Punkbands Skeptiker und Herbst in Peking haben ebenso überlebt wie die auch im Westen hinlänglich bekannten Gruppen Silly, City, Karussell, Rockhaus oder Keimzeit.

Die Band Karat (gegründet in den 1970ern) hat von allen DDR-Formationen den grössten Bekanntheitsgrad im Westen. Ihr Hit „Über sieben Brücken musst du gehn“ wurde im Westen von Peter Maffay (71) überaus erfolgreich gecovert. Nach der Wiedervereinigung wurde der Song mehrmals von beiden Interpreten gemeinsam aufgeführt, eine der wenigen deutsch-deutschen Beispiele von popkulturellem Zusammenwachsen.

Was kam danach?

Die Prinzen, eine Gruppe aus Leipzig, die 1987 als Die Herzbuben gegründet wurde, gaben ab 1991 richtig Glas. Sie produzierten Hits mit originellen Texten, die in Ost und West grosse Erfolge wurden. Insgesamt verkauften die Prinzen ca. sechs Millionen Tonträger. So viel schafften bislang auch Silbermond, eine Band aus Bautzen (seit 1998), die bis dato immer wieder mit einfühlsamen deutschen Balladen in den Charts auftaucht.

Mit härteren Texten und politischem Engagement gegen rechts agieren Kraftklub aus Chemnitz, ähnlich wie Feine Sahne Fischfilet aus Mecklenburg-Vorpommern, die „der Wut gegen Rassisten, Sexisten, Homophobie und Staat“ eine laute Stimme geben.

Ist Pop & Rock aus dem Osten engagierter oder zumindest auffälliger?

Prof. Edward Larkey von der University of Maryland (USA) ist ein brillanter Kenner der ostdeutschen Musikszene, er hatte zeitweise in der DDR studiert. Auf die Frage, welche DDR-Band die erste war, die gesamtdeutsch und darüber hinaus berühmt wurde, kennt er nur eine Antwort: Rammstein!

Rammstein wurde zwar erst 1994 gegründet, ging aber aus den DDR-Punkbands First Arsch und Feeling B hervor. Der spätere Rammstein-Frontmann Till Lindemann (57) hatte First Arsch (Abkürzung für: Erste Autonome Randalierer Schwerins) 1986 gegründet, auch Gitarrist Richard Kruspe (53) war damals schon mit von der Partie. Rammstein habe zwar nichts Östliches mehr gehabt, meint Larkey, aber vielleicht konnte so eine düstere, schaurig-romantische Band nur im Osten der frühen Neunziger entstehen.

Die Global Player

Rammstein ist als deutsche Band ein Global Player, nach dieser Formation kommt auf diesem Gebiet lange nichts. Grosse internationale Erfolge konnten auch Tokio Hotel feiern. Die Gruppe wurde 2001 in Magdeburg gegründet und schaffte es bis 2008 auch in Frankreich, Kanada, Israel und den USA in die Charts. Nach 2010 wurde es still um sie.

Natürlich gibt es da noch die Scorpions, die weltberühmte Band aus dem Westen, die seit 1965 unterwegs ist und zeitweise riesige Erfolge auch in Asien, den USA und sogar in der UdSSR feiern konnte (insgesamt 110 Mio. verkaufte Tonträger). Ihr Sänger Klaus Meine (72) ersann 1989 den Song „Wind of Change“. Die Idee kam ihm in Moskau unter dem Eindruck der Perestroika, die Michail Gorbatschow (89) ausgerufen hatte. Das Stück wurde 1991 veröffentlicht – ein nachträglicher West-Beitrag zum Thema deutsche Einheit.

Als Einheitshymne aus dem Westen gilt auch „Freiheit“ von Marius Müller-Westernhagen (71), ein Lied, das eigentlich den Verlust von Freiheit beklagt. Der Künstler hat es 1987 geschrieben, da hatte er „nicht den Fall der Mauer oder die Wiedervereinigung im Kopf“. „Freiheit“ erreichte Platz 24 in den Single-Charts.

So kam David Hasselhoff zu seiner Mauerfall-Hymne

Als 1989 die Mauer in Berlin fiel und die Menschen aus Ost und West sich in den Armen lagen, sangen sie beseelt mit zum Hit „Looking for Freedom“ des US-Schauspielers David Hasselhoff (68). Aktuell war auch dieser Song nicht. Der deutsche Musikproduzent Jack White (80), der eigentlich Horst Nussbaum heisst, hatte ihn 1978 geschrieben. Er kam unter dem Titel „Auf der Strasse des Südens“ auf den Markt, gesungen von Schlagerstar Tony Marshall (82). 1989 wurde das Lied von Hasselhoff gecovert. Dass es nahezu zeitgleich mit dem Mauerfall erschien, war purer Zufall.

Noch heute dementiert der deutschstämmige Amerikaner Hasselhoff das hartnäckige Gerücht, er habe mit seinem kleinen alten Lied die Mauer zwischen Ost und West eingerissen – und damit die grösste Wende seit dem Zweiten Weltkrieg eingeleitet. Das hätte der amtierende Herr im Weissen Haus mit Sicherheit nie getan.

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