Deshalb können Sie sich das Schimpfen sparen

Warum das Schimpfen mit dem Nachwuchs nichts bringt und wie Kinder selbstständig werden, erklärt Expertin Nora Imlau hier.

„Aus einem elterlichen Donnerwetter kann kein Kind etwas lernen, weil der Stress dabei sein Gehirn blockiert“: Die Expertin für Familienthemen Nora Imlau erklärt im Interview mit spot on news, warum Schimpfen nichts bringt. Zudem spricht die Autorin, die gerade das Buch „Mein Familienkompass“ (Ullstein) veröffentlicht hat, darüber, ob man Kindern wirklich alles Wichtige vermittelt haben muss, bis sie zwölf Jahre alt sind.

Ist die heutige Elterngeneration verunsicherter als die davor?

Nora Imlau: Ja, das beobachte ich so. Es prasseln heute auch durch die sozialen Netzwerke einfach so viele Informationen und Meinungen auf junge Eltern ein, dass es sehr schwer ist, sich davon nicht massiv verunsichern zu lassen. Dazu kommt die Vielfalt der Erziehungsvorstellungen, die sich zum Teil fundamental widersprechen. Da ist es kein Wunder, dass Eltern sich immer wieder bang fragen, ob sie gerade alles falsch machen, obwohl sie für ihre Kinder doch nur das Beste wollen.

Oft heisst es, es gebe viel zu viele Erziehungsratgeber. Reicht es aus, auf sein Bauchgefühl zu hören?

Imlau: Aus meiner Sicht: nein. Das viel gelobte Bauchgefühl ist bei näherem Hinsehen meist nichts anderes als ein wilder Mix aus eigenen Prägungen und Glaubenssätzen, die längst nicht alle förderlich für die Eltern-Kind-Beziehung sind. Deshalb glaube ich auch nicht, dass es zu viele Erziehungsratgeber gibt. Es gibt nur zu viele schlechte, die die individuelle Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern nicht genug in den Blick nehmen. Gute Ratgeber, die Eltern wirklich bestärken und ermutigen, kann es eigentlich nicht genug geben.

Wenn Eltern bei ihren Kindern nicht weiterkommen, werden manchmal Bestechung oder Erpressung als letzte Mittel genutzt. Wie kann man das vermeiden?

Imlau: Indem man vorher ansetzt: bei der Beziehung, die im ganz alltäglichen Miteinander entsteht. Wie wir in Friedenszeiten miteinander umgehen, prägt, wie wir uns in Konfliktsituationen verhalten. Ist da ein Grundvertrauen zueinander, eine gewisse Grosszügigkeit, die innere Stärke, auch mal ganz bewusst nachzugeben? Dann können wir Meinungsverschiedenheiten auch ohne Druck und Strafen lösen.

Dafür müssen wir uns allerdings mit der Tatsache abfinden, dass es Dinge gibt, die wir im Zweifelsfall halt auch mal nicht durchsetzen können. So gibt es etwa keinen gewaltfreien Weg, ein Kind zum Aufräumen zu zwingen. Entweder wir finden eine Strategie, dank der unser Kind es freiwillig macht. Oder wir müssen das Chaos aushalten. Der Lohn dafür ist ein Familienleben, das nicht auf Angst und Machtmissbrauch basiert. Ich finde, das ist die Unordnung wert.

Ohne laut zu werden, schaffen es die wenigsten Eltern. Hat Schimpfen irgendeine Wirkung?

Imlau: Na klar hat Schimpfen eine Wirkung: Kinder erschrecken davon, fühlen sich schlecht und lernen, dass man so anscheinend Konflikte löst – indem man rummeckert, droht und schimpft. Machen sie das dann nach, ist es den Eltern seltsamerweise aber auch nicht recht. Konkret heisst das: Natürlich dürfen wir Eltern auch mal die Stimme erheben und klar und deutlich sagen, was uns stört. Doch aus einem elterlichen Donnerwetter kann kein Kind etwas lernen, weil der Stress dabei sein Gehirn blockiert.

Stimmt es, dass man Kindern am besten alles Wichtige vermittelt, bis sie zwölf Jahre alt sind?

Imlau: Ich halte wenig von derlei Zeitfenstern, weil die Eltern-Kind-Beziehung zu keinem Zeitpunkt einfach abgeschlossen ist und es demzufolge auch nie zu spät dafür ist, Dinge anders zu machen und in einen wertschätzenden Austausch über die eigenen Wünsche und Werte zu treten.

Doch es ist auf jeden Fall eine gute Idee, als Eltern von Anfang an in die Qualität dieser Beziehung zu investieren und unsere Kinder von klein auf als vollwertige Menschen zu behandeln. Denn die ersten Jahre legen die Grundlage für alles, was später kommt, und ein sicher gebundenes Kind, das sich bedingungslos geliebt fühlt, hat mit zwölf das Rüstzeug, das es zum Erwachsenwerden braucht.

Was sind die drei grössten Erziehungs-Mythen, die Sie immer wieder zu hören kriegen und was steckt dahinter?

Imlau: Ein weit verbreiteter Erziehungsmythos ist zum Beispiel der, dass Kinder uns ständig ausnutzen, reinlegen, überlisten wollen. Er geht zurück auf das Menschenbild des Behaviorismus, der Kinder als kleine egoistische Tyrannen ansah, die erst zu sozialen Wesen geformt werden müssten. Heute wissen wir, dass Kinder ganz und gar nicht egoistisch sind, sondern von Anfang an auf Gemeinschaft und Kooperation gepolt. Was wir als „austricksen“ ansehen, ist ihr Versuch, die Spielregeln der Welt um sie herum durch Ausprobieren zu verstehen. Dahinter steckt jedoch keine böse Absicht, das ist mir ganz wichtig.

Ein weiterer Mythos betrifft die Selbstständigkeit: Viele Eltern denken, wenn Kinder von klein auf lernen, allein einzuschlafen und sich auch mal mit sich zu beschäftigen, tun sie sich auch später leichter damit, auf eigenen Beinen zu stehen. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Der Weg in die echte Selbstständigkeit führt über die vollkommene Unselbständigkeit. Wenn Kinder so lange sie klein sind all die Nähe bekommen, die sie verlangen, nehmen sie mit dem Älterwerden ganz von allein ihr Leben zusehends selbst in die Hand.

Ein dritter Mythos betrifft uns Eltern selbst: dass wir keine Schwäche zeigen dürfen, und immer einer Meinung sein müssen. Dabei gibt es für Kinder kaum etwas Schlimmeres als Eltern zu haben, die für sich beanspruchen, keine Fehler zu machen, und keine menschliche Regung zeigen, sondern immer nur lächeln. Echte, tragfähige Beziehungen leben hingegen von Authentizität: Dass wir uns verletzlich zeigen, unperfekt sind, Fehler machen, uns dafür entschuldigen und versuchen, es besser hinzukriegen – dass ist es, was unsere Kinder wirklich von uns brauchen.

Vorheriger Artikel„Sag das den Toten!“: Hollywood-Stars gehen auf Trump los
Nächster ArtikelHeinz Hoenig: „Können es kaum erwarten, dass der Bub endlich kommt“