50 Jahre „Tatort“: Warum wir das Verbrechen so lieben

20:15 Uhr. Es ist angerichtet, Bier und Chips stehen bereit. Ruhe jetzt! Und bitte keine lästigen Anrufe mehr oder irgendwelche Gespräche. Der „Tatort“ kann beginnen.

Er ist den Deutschen heilig geworden. Ihr liebstes Sonntagsritual. Zum Gottesdienst gehen im Jahresdurchschnitt 2,7 Millionen Menschen. Den jüngsten „Tatort: Die Ferien des Monsieur Murot“ (22.11.) sahen 8,27 Millionen. Ein eher durchschnittlicher Wert, denn wenn Thiel und Boerne aus Münster auf Verbrecherjagd gehen, hängen schon mal über elf Millionen vor dem TV ab.

Kommenden Sonntag feiert die Krimireihe ihren 50. Geburtstag. Seit dem ersten Film „Taxi nach Leipzig“ mit Walter Richter (1905-1985) als bärbeissiger Hamburger Ermittler Paul Trimmel am 29. November 1970 gingen in über 1100 Folgen 148 Kommissare – und ein durchgeknallter Zolloberinspektor namens Kressin – auf Verbrecherjagd.

Das Land hat sich inzwischen gewaltig verändert, die Menschen auch, nur der „Tatort“ funktioniert immer noch nach dem gleichen Schema: Das Gute siegt (fast) immer und überall. Was musste die „Tatort“-Reihe nicht alles miterleben: „Fünf Kanzler, zehn Bundespräsidenten“, zählte die „Zeit“, auch den Mauerfall, das Ende der DDR, die Wiedervereinigung, Aktien-Crash, eine Flüchtlingskrise – und Corona, das wildeste aller Nachkriegsdramen. Fast alles hat sich verändert, nur eines nicht: Das Böse ist immer und überall.

Warum lieben die Deutschen ihren Sonntagskrimi so sehr?

Für den Karlsruher Literaturprofessor Stefan Scherer von der Forschungs-Universität KIT ist der „Tatort“ typisch deutsch. Er zeige die föderalistische Ordnung der Bundesrepublik, indem jeder Sender der ARD eigene Ermittler auf Täterfang gehen lasse. „Dies ermöglicht es, immer wieder neue Konzepte einzuführen, die Mentalität und Lebensstil der jeweiligen Zeit widerspiegeln.“ Man könne dabei sehen, wie die Heimat „vielfältiger und offener“ geworden sei, meinte Scherer im Mediendienst „W&V“.

Der „Tatort“ – ein vertrauter Seelenspiegel deutscher Befindlichkeit? Er sei „einzigartig in der deutschen Fernsehlandschaft“ und verschränke das „Prinzip abgeschlossener Folgehandlungen mit Elementen der Fortsetzungsgeschichte“, analysiert hat Prof. Scherer. Ein „wahrer Gesellschaftsroman der Bundesrepublik Deutschland“.

Ausserdem bilden sich beim „Tatort“ – ähnlich wie früher bei der „Lindenstrasse“ (TV-Serie, 1985-2020, das Erste) – geradezu verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Fiktion und Realität. Über nichts, ausser Fussball, lässt sich montags so kontrovers diskutieren und streiten wie über den letzten Krimi vom Sonntagabend. So entstehen Zusammengehörigkeitsgefühle.

Unveränderte Erkennungszeichen

Es geht los wie immer. Der 32 Sekunden lange Vorspann ist seit dem Start der Reihe fast unverändert geblieben und „hat sich in das Gedächtnis von Generationen eingeschrieben“, sagt die ARD. Man sieht eisblaue Augen, ein Fadenkreuz, dann laufende Beine, erst vorwärts, dann rückwärts. Dazu die berühmte „Tatort“-Musik von Jazzmusiker Klaus Doldinger (84), am Schlagzeug der Erstfassung sass einst Udo Lindenberg (74). Augen und Beine gehören zum Schauspieler Horst Lettenmayer, der dafür eine Gage von 400 D-Mark bekommen hat.

Der Dramaturg Gunther Witte (1935-2018) ist der Erfinder des „Tatorts“. Er soll, wie Liane Jessen, viele Jahre Fernsehspiel-Chefin des Hessischen Rundfunks (HR), in der „Zeit“ erzählte, das Rezept ausgegeben haben: Bloss keine Kunstkino-Storys, keine komplizierten Vorschauen und Rückblenden, in den ersten Minuten ein Toter oder eine Tote, dann die Ermittlung: Wer war es – und warum?

Lustvolle Experimente wider das Theorem

Dass ausgerechnet der HR besonders lustvoll gegen dieses Theorem handelt, beweisen seine experimentellen Episoden mit Hauptkommissar Felix Murot, gespielt vom fabelhaften Ulrich Tukur (63). Im jüngsten Film am vergangenen Sonntag ermittelte Murot gegen seine Mörderin, die ihn überfahren hat. Aber nein, es war ja nur der Doppelgänger, ein überdrehter Autoverkäufer, der auf der Strecke bzw. der Landstrasse liegen blieb, während Murot die Witwe – und Täterin – beglückte und die Zuschauer schwindlig ins Bett wankten.

Eine ähnliche Begegnung mit sich selbst hatte Tukur schon mal 2015 im „Tatort: Wer bin ich?“ Gute Frage: Da beschwert sich der Schauspieler bei seinem Alter Ego, dem Kommissar, dass der ihm zu unbekümmert handle, schliesslich sei er doch Polizist. Murot antwortet ihm: „Ich? Bin hier gar nichts. Ich bin doch nur so eine Idee. Aber ich möchte auch mal leben, mal real sein.“ Dann ging er – und Tukur blieb verstört zurück. Die Zuschauer auch …

Die Münchner ermittelten am häufigsten

Von den 148 Kommissaren hat bislang am häufigsten das Münchner Team Ivo Batic (Miroslav Nemec, 66) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl, 62) vom Bayerischen Rundfunk ermittelt. 31 Jahre im Dienst ist Lena Odenthal (Ulrike Folkerts, 59) aus Ludwigshafen, die dienstälteste „Tatort“-Kommissarin. Der berühmteste aller „Tatort“-Polizisten war Horst Schimanski (Götz George, 1938-2016), ein Ruhrgebiets-Bulle, der die Fetzen herrlich fliegen liess. Die beliebtesten Ermittler sind Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl, 60) und der spinöse Rechtsmediziner Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers, 56).

Der erfolgreichste „Tatort“ war „Rot – rot – tot“ am Neujahrsabend 1978. Über 26 Millionen Zuschauer sahen, wie Kommissar Lutz (Werner Schumacher, 1921-2004) den Frauenmörder Konrad Pfandler (Curd Jürgens, 1915-1982) zur Strecke brachte.

Die meisten Toten (51) hatte der HR-„Tatort“ namens „Im Schmerz geboren“ (2014) mit Kommissar Murot. Der Hamburg-Krimi „Kopfgeld“ (2014) kam nur auf 19 Todesopfer, und Til Schweiger (56) als Polizei-Rambo Nick Tschiller nuschelte seine wenigen Sätze in den Knall der Schüsse.

Mancher „Tatort“-Ermittler starb auch im Dienst

Einige „Tatort“-Ermittler starben im Dienst, darunter gleich zwei in Bremen: 2013 wurde Leo Uljanoff (Antoine Monot, Jr., 45) im „Tatort: Er wird töten“ erstochen, Hauptkommissar Nils Stedefreund (Oliver Mommsen, 51) wurde 2019 im „Tatort: Wo ist nur mein Schatz geblieben?“ erschossen. Den Hamburger Undercover-Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus, 48) erwischte es 2012 im „Tatort: Die Ballade von Cenk und Valerie“, er starb durch die Kugel eines SEK-Scharfschützen.

Im Kölner „Tatort: Franziska“ wurde die Kriminalassistentin Franziska (Tessa Mittelstaedt, 46) 2014 von einem Geiselnehmer erdrosselt. Für Schauspielerin Jella Haase (28) war der „Tatort: Auf einen Schlag“ (2016) aus Dresden der erste und letzte als Polizeianwärterin Maria Magdalena Mohr. Jüngstes Todesopfer ist die Münsteraner Kommissarin Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter, 41), die im Crossover-„Tatort: Das Team“ (2020) das Zeitliche segnete.

Den Berliner Hauptkommissar Felix Stark (Boris Aljinovic, 53) erwischte es 2014. Der Mörder schoss, Stark blieb liegen, und in der Klinik antwortete der Arzt am Ende auf die Frage, ob er überleben werde, mit „vielleicht“. Schluss. Damit gab er dem Film seinen Titel. Stellen Sie sich vor, er hätte gesagt: Nichts Genaues weiss man nicht…

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