McLaren 720S: Reif von der Insel

McLaren schickt – erstmals überhaupt in seiner Geschichte – eine Nachfolgegeneration an den Start. In der Baureihe „Super Series“ löst der 720S den Vorgänger 650S ab. Anders als in der Formel 1 ist McLaren mit diesem Renner erfolgreich. Wer ihn kaufen will, muss sich ein Jahr gedulden.

Für die meisten Autofahrer bewegt sich ein McLaren im Windschatten der Wahrnehmung. Einen solchen Sportwagen an der Ampel neben sich zu haben oder vom Strassen-Café aus vorbeifahren zu sehen ist äusserst selten (ausser man hängt in Monte Carlo im Café de Paris ab). Hinzu kommt: Nur Profis entlarven die Flunder auf Anhieb als McLaren und verwechseln den Wagen nicht mit einem Ferrari.

Seit der Automesse in Genf im März gilt nun, ein weiteres Modell der britischen Sportwagenschmiede abzuspeichern, den 720S. Er bildet den Auftakt zu einer neuen Generation, intern Super Series P14 genannt. Sie löst die Baureihe P11 aus dem Jahre 2011 ab, zu denen der 12C, der 650S und der 675LT gehörten. Wie gut der 720S schon beim Messe-Publikum ankam, zeigen die Bestelleingänge. „400 Autos wurden vom Stand weg verkauft“, sagt Jolyon Nash, zuständig für Global Marketing und Vertrieb. Im Folgemonat April gingen laut Nash weitere 1’000 Orders in der Zentrale in Woking ein. Wer sich heute zu einem 720S entschliesst, muss gut ein Jahr auf die Auslieferung warten.

Alles noch ein bisschen besser

Die Kunden scheinen zu wissen, worauf es sich zu warten lohnt. Schon die Vorgängermodelle haben sich in der Supersportwagenszene gehörigen Respekt verschafft, was Fahrleistungen, Handling, Längs- und Querdynamik betreffen. Nur wenige Modelle dieses Kalibers lassen sich so schnell und dabei so geschmeidig und gelassen durch jede Art von Kurven bewegen. Dass der 720S alles noch ein bisschen besser kann, ist rein ingenieursgetrieben und ein logischer Werdegang im Bau von Supersportwagen. Klar definiert im Lastenheft war: neues Karbon-Monocoque, neues Design, weniger Gewicht, optimiertes Fahrwerk, grössere Spreizung zwischen Alltag und Track, ein noch ausgewogeneres Handling, variable Driftwinkel und natürlich mehr Leistung und Drehmoment.

Bestes Leistungsgewicht und ein Modus zum Driften

Mit 1.283 Kilogramm wiegt der McLaren 720S nur etwa so viel wie ein VW Golf, unterbietet einen Ferrari 488 ebenso wie einen Lamborghini Huracan oder Porsche 911 Turbo S. „Kein Wettbewerber weist ein besseres Leistungsgewicht auf“, sagt Chef-Ingenieur Emilio Scervo, ein ehemaliger Mann aus Maranello. 720 PS und 770 Newtonmeter kitzelten Scervo und sein Team aus dem Vierliter-Twinturbo-V8, was gegenüber dem Vorgänger 650S eine Zunahme von über zehn Prozent bedeutet. Gleichzeitig wurden 18 Kilo Gewicht eingespart. Entsprechend schlägt sich dies in den reinen Zahlwerten nieder, wenn der Vierliter-V8-Twinturbo über die Launch-Control aktiviert wird. 0-100 km/h, zuvor 3,0, sind jetzt nach 2,9 Sekunden erledigt (genauso schnell steht der 720S übrigens auch wieder). 0-200 km/h, zuvor 8,4, jetzt 7,8 Sekunden. 0-300 km/h, zuvor 25,4, jetzt 21,4 Sekunden. Die Höchstgeschwindigkeit stieg von 333 auf 341 km/h.

Rauf auf die Rennstrecke

Doch letzteres Vmax-Tempo bleibt in Italien, wo wir den 720S testen konnten, reine Theorie. Autobahnen wie Landstrassen über Gebühr flott unter die Räder zu nehmen, birgt stets die Gefahr, die Kelle der Kollegen Carabinieri zu Gesicht zu bekommen. Die Zeiten, in denen man nach einem Zwangsstopp noch den Achtzylinder aufheulen lassen konnte und der Daumen der Beamten mit einem „bella macchina“ nach oben ging, sind lange vorbei.

Also rauf auf die Rennstrecke. Genauer auf das „Autodromo Vallelunga“, nördlich von Rom gelegen. Denn erst auf abgesperrter Piste kann man sich halbwegs an den Grenzbereich des 720S herantasten, wohlwissend, dass dieser deutlich höher liegt als der eigene. Dafür haben die McLaren-Leute sehr professionell gesorgt. Ihr jüngstes Baby wirkt bestens abgestimmt und ausbalanciert. Schliesslich sollen auch Nicht-Profis Freude am Schnellfahren entlang der Ideallinie haben, sollen Brems- und Einlenkpunkte perfekt treffen und nach einiger Übung irgendwann vielleicht im leichten Drift ein paar Kurven meistern. Etwas elektronische Hilfe gibt es vom Hersteller. McLaren nennt es „Variable Drift Control“. Der Modus lässt sich per Schieberegler stufenlos auf dem Display einstellen – von „leicht den Hintern raus“ bis „voll quer“.

Der wahre Verbrauch liegt jenseits von 20 Liter

Natürlich gibt es weitere Knöpfe zum Spielen. Das frühere N heisst jetzt C und steht für Komfort im Alltag, S für Sport und T für Track. Doch egal, welches Setting aktiv ist: es bleibt schier unglaublich, mit welch einer Dynamik der 720S zupackt, wie direkt er am Gas hängt, wie knackig er die Gänge wechselt, wie locker der V8 bis knapp an die 8.000er-Grenze dreht und dabei einen Sound entwickelt, der schlicht süchtig macht. Mehr Fahrspass geht nicht.

Kein Öko-Racer

Dass dann der tatsächliche Verbrauch jenen aus der Märchenwelt des Rollenprüfstands (10,7 l/100 km) leicht um mehr als 100 Prozent übertrifft – wen interessieren solche Nebensächlichkeiten? Der McLaren 720S ist kein Öko-Racer. Und wer rund 268’000 Franken für einen Supersportwagen ausgeben kann, sollte auch an der Tankstelle die Rechnung bezahlen können.

Bei so viel Begeisterung für die jüngste McLaren-Schöpfung neigt man schnell dazu, Kritikpunkte auszublenden. Wirklich nerven tut nichts, aber das digitale Cockpit, auch wenn es cool auf- und zuklappt, wirkt bei der Oberfläche etwas billig. Da sollten die McLaren-Leute mal in einen Audi TT schauen. Lob verdienen Verarbeitung und Materialien (Karbon, Alcantara) sowie die beiden Kofferräume, die für den Wochenendtrip allemal ausreichen. Und selbst um eine vermeintliche Nebensächlichkeit hat man sich in Woking Gedanken gemacht. Damit beim Öffnen der Flügeltüren beispielsweise die teure Armani-Brille nicht aus ihrer Ablage auf die Strasse fällt, schliesst das Fach automatisch beim Hochdrücken der Tür.

Technische Daten McLaren 720S: Zweisitziger Supersportwagen

Länge: 4,54 m | Breite: 2,16 m (Spiegel ausgeklappt) | Höhe: 1,20 m, Leergewicht: 1.283 kg | Kofferraum: 150 l vorne, 210 l hinten | Motor: 4,0-Liter-V8-Twinturbo | Leistung: 720 PS (529 kW) bei 7.500 U/min | Drehmoment: 770 Nm bei 5.500 U/min | Getriebe: 7-Gang-Automatik | Beschleunigung: 0-100 km/h: 2,9 s, 0-200 km/h: 7,8 s | Höchstgeschwindigkeit: 341 km/h | Verbrauch: 10,7 l/100 km (Werksangabe) | CO2-Emission: 249 g/km | Listenpreis: ab ca. 268’000 Franken

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