Martin Wehrle: Darum kann unbegrenzter Urlaub böse enden

Was passiert, wenn Firmen unbegrenzten Urlaub anbieten? Das erklärt Bestsellerautor Martin Wehrle im Interview. Darin verrät er auch, was er von einem Grundeinkommen hält.

Über den Irrsinn in der modernen Arbeitswelt berichtet Bestsellerautor Martin Wehrle (48) in seinem neuen Buch „Noch so ein Arbeitstag, und ich dreh durch!“. Darin schildert der Karriere- und Persönlichkeitscoach Erfahrungsberichte aus seiner Praxis und will den Lesern Möglichkeiten zeigen, dem Wahnsinn entgegenzutreten. Im Interview spricht Wehrle über unbegrenzten Urlaub und Hans-Georg Maassen (55).

Welche der Schilderungen, Geschichten von Angestellten oder Fakten, die Sie schon gehört haben, war für Sie selbst die irrsinnigste?

Martin Wehrle: Der Mitarbeiter eines Konzerns schaut Ende Februar im Intranet in die Liste der zum Jahresende Ausscheidenden. Auf einmal gefriert ihm das Blut in den Adern: Sein Name steht dort. Er stürmt ins Büro seines Chefs, doch der telefoniert gerade. Erst nach zehn Minuten erfährt er dann: Er ist entlassen worden. Sein Chef sagt: „Es lag nicht an Ihrer Leistung, der Etat ist einfach weggefallen. Und ich hätte Ihnen vor Veröffentlichung gern Bescheid gesagt, aber es kam ein wichtiges Telefonat rein.“ Dass Menschen ihre Würde bei der Arbeit geraubt wird, das ärgert mich am meisten.

Es gibt inzwischen Unternehmen, die unbegrenzte Urlaubstage anbieten. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Wehrle: Im Gegenteil, ich verweise in meinem Buch auf die USA. Dort lassen die Mitarbeiter die Hälfte ihres Urlaubs verfallen. Und besonders schlimm ist es bei Firmen wie Evernote: Seit die Beschäftigten dort unbegrenzt Urlaub nehmen dürfen, ist die Zahl der freien Tage massiv gesunken. Das ist ja gerade der Trick: Man lädt den Leuten mehr Arbeit auf den Tisch, als in der regulären Zeit zu schaffen ist. Dann werden Überstunden aus Notwehr geleistet, und Urlaubstage gehen über den Jordan. Die moderne Arbeitswelt verführt zur Selbstausbeutung.

Viele Menschen haben das Gefühl, auf ihren Job angewiesen zu sein. Wie kann man sich in so einer Situation wehren?

Wehrle: Zum einen schlage ich individuelle Abgrenzung vor: dass man nach Feierabend konsequent die modernen Medien ausschaltet, keine Nachrichten der Firma mehr empfängt. Zum anderen bin ich für kollektive Abgrenzung: Man stimmt sich mit den Kollegen ab, dass die ihr Handy auch abschalten oder pünktlich Feierabend machen. Wenn im Grossraumbüro die Mehrheit um 17 Uhr Feierabend macht, muss keiner mehr fürchten, bei seinem Chef unten durch zu sein. Mitarbeiter sind mächtig – wenn sie zusammenhalten.

Eine Beförderung, die gerade für viel Aufsehen gesorgt hat, ist die von Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maassen. Spiegelt sich hier auf höchster Ebene und vor den Augen der Öffentlichkeit wider, was auch in manchen Unternehmen falsch läuft?

Wehrle: Absolut! Stellen Sie sich diese Signalwirkung vor: Maassen wird für sein öffentliches Versagen zunächst zum Staatssekretär ernannt, nur weil sein Chef einen Machtkampf mit der Bundeskanzlerin austrägt. Aber wie wirkt sich das auf fleissige Mitarbeiter des Innenministeriums aus, die selbst seit Jahren vergeblich auf ihre Beförderung warten? In vielen Betrieben gilt: Man wird nicht für seine Leistung, sondern für Vitamin B belohnt. Wer die richtigen Kontakte hat, fällt die Karriereleiter hinauf. Die wirklichen Leistungsträger bleiben oft auf der Strecke.

Was macht eine gute Führungskraft aus?

Wehrle: Dass sie Menschen liebt. Dass sie gerecht ist. Und dass sie vorlebt, was sie von ihren Beschäftigten fordert. Wir dürfen nicht länger die mit den härtesten Ellenbogen befördern, es sollten die mit der grössten sozialen Kompetenz sein. In meinem Buch fordere ich, dass Mitarbeiter ihre Chefs künftig selbst wählen dürfen, wie einst den Klassensprecher. Dieses Prinzip wird von der Drogeriekette dm bereits verwendet, mit grossem Erfolg. Ein guter Chef vertritt nicht nur die Interessen der Firma nach unten, sondern auch die der Mitarbeiter nach oben.

Die Work-Life-Balance soll in Dänemark und Schweden besonders gut sein. Was machen die Menschen dort anders?

Wehrle: In Skandinavien wird die Arbeit am Ergebnis gemessen, nicht an der Anwesenheit. Hierzulande leisten immer noch 1,8 Milliarden Überstunden pro Jahr. Und als Held der Arbeit gilt, wer abends am längsten im Büro sitzt. Das ist Unsinn: Besser man tut in vier Stunden Arbeit das Richtige, als dass man nach 14 Stunden übermüdet eine Fehlentscheidung fällt. Und: Wer sich in der Freizeit erholt, ist bei der Arbeit ausgeglichener und kommt auf bessere Ideen.

Bis 2025 werden mehr Aufgaben von Robotern als von Menschen erledigt, hat eine Studie herausgefunden. Was bedeutet das für die Zukunft der Arbeitswelt?

Wehrle: Ich glaube, der Mensch wird in der Arbeitswelt der Zukunft wichtig bleiben. Zwar kann ein Roboter eine U-Bahn steuern, aber den Fahrgästen ein Gefühl von Sicherheit geben, das kann er nicht. Er kann eine Krebsdiagnose erstellen, aber die Botschaft einfühlsam übermitteln und eine individuelle Therapie erstellen, das kann er nicht. Nie wird ein Roboter in der Lage sein, Kundenwünsche zu erforschen und Service zu liefern. Aber darauf kommt es an. Die Fertigungsarbeit wird mehr an Roboter gehen, doch in Produktentwicklung und Service werden Menschen wichtiger denn je sein – mit kürzeren Arbeitszeiten als heute.

Was halten Sie von einem Grundeinkommen?

Wehrle: In meinem Buch weise ich darauf hin, dass die Unternehmensgewinne der Kapitalgesellschaften sich von 1991 bis 2016 verdreifacht haben (Banken und Versicherungen ausgenommen). Zur gleichen Zeit sind die Reallöhne gesunken, am stärksten im Niedriglohnbereich. Unser vermeintlich reiches Land hat den grössten Niedriglohnsektor in Europa. Für mich ist das ein Skandal. Deshalb fände ich es eine gute Idee, wenn der Staat von den grossen Firmen einen „Solidaritätsbeitrag“ fordern und damit ein Grundeinkommen finanzieren würde. Im Grundgesetz heisst es: „Eigentum verpflichtet“. Daran müssen die Firmen wieder erinnert werden.

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