Wann sind Therapien und Operationen notwendig – und wann nicht?

Quelle: Gräfe und Unzer Verlag

Vorsichtshalber eine Untersuchung mehr oder eine Operation durchführen, um auf Nummer sicher zu gehen: Der Arzt Werner Bartens kritisiert, dass in Deutschland viele Tests, Therapien oder OPs gemacht werden, obwohl sie gar nicht von Nöten wären. Das sollten Patienten beachten.

Ein künstliches Gelenk, obwohl es erst in ein paar Jahren nötig wäre, die falsche Medizin oder Untersuchungen, die nichts bringen. Der Arzt und Wissenschaftsjournalist Werner Bartens warnt vor Fehleinschätzungen und -diagnosen. In seinem Buch „Ist das Medizin oder kann das weg?“ (Gräfe und Unzer) informiert er über die unnötigsten Tests, Therapien und Operationen. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur spot on news erklärt er, weshalb Deutschland bei OPs Weltmeister ist. Ausserdem gibt Bartens Patientinnen und Patienten Entscheidungshilfen mit auf den Weg.

Sie kritisieren in Ihrem Buch überflüssige Tests, unnötige Therapien und fragwürdige Operationen. Wie kommt es überhaupt zu solchen Fehlern?

Werner Bartens: Einerseits ist das ökonomischen Fehlanreizen geschuldet, also dass Untersuchungen und manche Behandlungen besser bezahlt werden als Abwarten oder Nichtstun. Das gilt generell in der Medizin. Dinge, die viel Laboraufwand darstellen oder invasiv sind, werden deutlich besser bezahlt, als diese Eingriffe zu unterlassen. Und da gibt es natürlich nicht nur das persönliche Gewinninteresse, sondern auch mittlerweile leider in Krankenhäusern die Dominanz der Kaufleute, die genau wissen, welche Interventionen, welche Untersuchungen, welche Behandlungen wie gut honoriert werden. Die sagen den Ärzten durchaus mal, dass deren Abteilungen nicht lukrativ seien. Hinzu kommen Bonuszahlungen. Diese erhält etwa ein Chefarzt am Jahresende, wenn er eine bestimmte Anzahl an Untersuchungen gemacht hat. Nehmen wir das Beispiel Herzkatheter-Untersuchungen. Kann man machen, kann man auch lassen bei manchen Patienten. Das wird dann eher gemacht als gelassen.

Ich möchte aber klar betonen, dass Ärzte keine Abzocker und Verbrecher sind. Viele Ärzte führen Untersuchungen oder OPs durch, weil sie Angst haben, etwas zu verpassen oder juristisch belangt zu werden, wenn sie etwas nicht tun. Daraus entsteht diese Handlung „Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig“. Als Beispiel: Die Kaiserschnitt-Rate würde aus rein medizinischen Gründen bei zehn bis maximal 15 Prozent liegen. Seit Jahren liegt sie in Deutschland allerdings bei über 30 Prozent.

Zudem findet man oft Bagatellbefunde, kleine Normabweichungen, die die Patienten verunsichern. Dann ist man schnell in einer Untersuchungsmühle drinnen. Bildgebung, Röntgen, Kernspin oder bestimmte Rezepte für Medikamente wären jedoch gar nicht notwendig. Oftmals wäre Abwarten und Kontrollieren die bessere Methode.

Hinzu kommen örtliche Gepflogenheiten. Mancherorts liegt die Anzahl der Kaiserschnitte bei 50 Prozent, anderswo bei 20 Prozent. Das liegt oft an „Chefarzt-Traditionen“. Ein weiterer Punkt: Einige Ärzte sind schlichtweg nicht gut darin, auf dem Stande der Wissenschaft zu bleiben und informieren sich zu wenig, etwa durch Fortbildung.

Welche Untersuchungen und OPs sind in den meisten Fällen unnötig – und wieso?

Bartens: Deutschland ist Weltmeister in der Häufigkeit der Herzkatheter-Untersuchungen pro Einwohner. Das wäre nur in 30, 40, maximal 50 Prozent der Fälle nötig. Auch bei Gelenkersatz, wie künstlichen Hüften oder künstlichen Knien, ist Deutschland weltweit führend. Ebenfalls sehr häufig und überflüssig sind Röntgenaufnahmen des Rückens. Mehr als 90 Prozent der Rückenschmerzen gehen von allein wieder weg, ohne Bilder, Spritzen oder Operationen, häufig sind sie psychisch bedingt.

Zwei Drittel aller Hausärzte geben bei grippalen Infekten Antibiotika, obwohl man das eigentlich schon in der Oberstufe lernt, aber spätestens im Medizinstudium, dass grippale Infekte durch Viren ausgelöst werden. Dagegen helfen keine Antibiotika, die helfen nur gegen Bakterien. Ich könnte noch viel mehr Beispiele nennen…

Ist es nicht besser, ein paar unnötige Untersuchungen durchzuführen – anstatt keine und dabei vielleicht etwas Wichtiges zu übersehen?

Bartens: Früh erkannt, schnell behandelt, länger leben, denkt jeder. Hier ein Gegenbeispiel: Wenn 1000 Frauen zwischen 50 und 70 Jahren alle zwei Jahre lang die Brust geröntgt wird – das ist ja die Empfehlung – haben ganz viele Studien gezeigt, dass in zehn Jahren drei von 1000 an Brustkrebs sterben, wenn die Frauen zur Mammografie gehen. Wenn Sie nicht zur Mammographie gehen, sterben vier von 1000. Das heisst, der Nutzen ist vorhanden, aber relativ gering. Hinzu kommt: Von diesen 1000 Frauen werden in zehn Jahren 150 einen falschen Alarm bekommen. Man weiss weiterhin, dass von diesen 150 zwischen fünf und zehn auch gegen Krebs behandelt werden, obwohl sie keinen haben.

Wie kann das sein?

Bartens: In manchen Fällen lässt sich nicht gut unterscheiden, ob es sich wirklich um Krebs handelt oder um eine kleine Veränderung oder Vorstufe, die in den allermeisten Fällen aber gar nicht zu Krebs führt. Durch die Mammographie werden immer mehr Frühformen entdeckt. Mir geht es gar nicht darum, zu sagen „Liebe Frauen, geht nicht zur Mammographie“, sondern um vernünftige, ausgewogene Aufklärung. Und dann kann ja jede Frau für sich entscheiden, ob sie sich untersuchen lässt.

Wie kann ich als Nicht-Mediziner entscheiden, ob ich etwas wirklich brauche oder nicht?

Bartens: Wichtig ist, nicht „Dr. Google“ zu vertrauen. Wer Symptome im Internet nachschlägt, sollte sich auf seriösen Seiten bewegen, etwa gesundheitsinformation.de. Wer sich untersuchen lässt, dem rate ich, den Arzt oder die Ärztin zu fragen, was er oder sie selbst dem eigenen Partner, dem Kind oder Oma und Opa raten würde. Die Vertrauensfrage „Wie würden Sie es für sich selbst machen?“ bewegt Mediziner vielleicht zu der Empfehlung, mit bestimmten Operationen oder Untersuchungen noch zu warten.

Wichtig ist, sich im Gespräch ausreichend zu informieren. Ich empfehle, sich zu notieren, was man wissen will und danach vorzugehen. Nicht, dass man mit Fragen in die Praxis hinein und unbeantwortet wieder hinausgeht. Ausserdem: Nicht mit den Erklärungen und Antworten zufriedengeben, wenn Sie sie nicht verstanden haben, sondern nachhaken. Und bleiben Sie nur bei Ihrem Arzt, wenn Sie ein gutes Gefühl bei ihm haben und den Eindruck, dass er Ihnen helfen kann. Sagen sie ruhig, wenn Sie sich unwohl fühlen. Ein ganz wichtiger Punkt ist ausserdem: Wer unter psychischen Beschwerden und seelischen Belastungen leidet, sollte keine Scheu haben und diese ansprechen, da sich Schmerzen und viele andere Beschwerden durch die Psyche erklären lassen.

Ist es sinnvoll, sich eine zweite Meinung einzuholen?

Bartens: Man kann sich eine zweite Meinung holen – aber erst, wenn man die erste gehört und verstanden hat. Natürlich kann man auch bei der zweiten Besprechung an jemanden geraten, der zum gleichen Schluss kommt. Zuvor Unterlagen, Befunde, Röntgenbilder mitnehmen – darauf hat man ein Recht.

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