Hausboot-Trip: Entschleunigung mit allen Sinnen

Wer im Urlaub vor allem Entschleunigung sucht, ist auf dem Hausboot genau richtig. Man entdeckt die Langsamkeit des Seins, die Wahrnehmung der Natur und spürbare Freiheit. Ein Selbstversuch.

Immer mehr Freizeitkapitäne sind auf Kanälen, Flüssen und Seen in Europa unterwegs – ohne Bootsführerschein. Wer ein Hausboot steuert, braucht keinen. Dies ist einer der Anreize, die Ferien auf dem Wasser zu verbringen. Andere schätzen an dieser immer beliebteren Art des Reisens das langsame Dahingleiten in wunderbaren Landschaften, die bewusste Wahrnehmung der Sinne und die Rückbesinnung auf natürliche Werte. Auch die Freiheit, entlang der Route überall anzulegen, wo einem danach ist, hat etwas ganz Besonderes. Wie sich Hausboot-Ferien anfühlen, haben wir auf einem Kurztrip auf dem Marne-Rhein-Kanal im französischen Lothringen ausprobiert.

Schon mal von Lutzelbourg gehört? Wenn nicht, ist das keine peinliche Bildungslücke. Lutzelbourg ist ein kleines Dorf im französischen Lothringen. Knapp 600 Einwohner, zwei Kneipen, ein Bäcker, ein Schreibwarenhändler mit Mini-Supermarkt. Durch das idyllische, sattgrüne kleine Tal fliesst die Zorn, und dieses Flüsschen führt dazu, dass jedes Jahr ungleich mehr Menschen nach Lutzelbourg kommen, als dort leben. Sie kommen, um gleich wieder zu fahren. Die Zorn hinauf in Richtung Nancy, oder hinunter in den Elsass bis nach Strassburg. „Port Amont 7, Rue de la Zorn“ in Lutzelbourg ist für Freizeitkapitäne aus aller Welt die Adresse schwimmenden Glücks.

Über 200 Hausbootreisen in ganz Europa

Francois Meyer erwartet zwei ausgewachsene Landratten. Damit möchte ich meine Frau, die frei nach Kishon nicht nur die Beste von allen, sondern auch die beste Fotografin ist, keinesfalls beleidigen. Aber weil ein Wochenende auf dem Wasser ansteht, muss Seemannssprache nun mal sein, zumindest in der Grundform. Ausserdem bestimmt der Kapitän an Bord, und das bin ich, die grössere Landratte. Bis es aber soweit ist, hat Francois das Sagen. Glücklicherweise. Der 42-Jährige ist in Lutzelbourg Basisleiter von „Locaboat Holidays“, einem Spezialisten für diese Art von Urlaubsvergnügen, der seit 40 Jahren auf dem Markt ist und über 200 Hausbootreisen in Europa im Programm hat, für die man keinen Führerschein braucht. Neben Frankreich sind Gewässer in Deutschland, den Niederlanden, Italien, Irland und Polen die Reiseziele. 60 Prozent der Kundschaft kommt aus Österreich, der Schweiz und Deutschland.

„Haben Sie schon einmal ein Boot gesteuert ?“, fragt Francois.
„Nein, nur mitgefahren“, gestehe ich.
„Das macht nichts“, beruhigt unser Instruktor. „Die Hälfte unserer Kunden hat keine Erfahrung. Das Schöne ist, dass unsere Boote leicht zu beherrschen und sehr sicher sind.“
„Das haben die auf der Titanic auch geglaubt“, wirft meine Beste ein.

Eine schicke Jacht namens „Mercurey“

Und dann stehen wir vor ihr, der „Mercurey“, benannt nach einer Gemeinde im Département Saône-et-Loire, das für gute Rotweine bekannt ist. Unser Traumschiff ist eine Jacht vom Typ Grand Sturdy 34.9 aus der niederländischen Linssen-Werft, gut zehn Meter lang. „Und fast zwölf Tonnen schwer,“ ergänzt Francois. „Da muss man wegen des Gewichts immer berücksichtigen, dass das Boot bei Richtungsänderungen oder beim Abbremsen mit Verzögerung reagiert.“ Hat unser Experte wirklich „bremsen“ gesagt? Dabei steht im Kapitänshandbuch, das jeder Kunde vor der Reise nach Hause geschickt bekommt, dass ein Bremsmanöver „Aufstoppen“ heisst! Geschenkt. Schliesslich muss Francois noch eine Checkliste mit 25 Punkten abhaken und uns mit der Technik vertraut machen. Ein Volvo-Diesel mit 75 PS treibt die Mercurey an, was für gemütliche 12 km/h Höchstgeschwindigkeit reicht. Beim Manövrieren unterstützen ein Bugstrahl- und ein Heckstrahlruder. Auch Metallpflöcke samt Hammer zum Anlegen in freier Natur entlang der Route fehlen nicht. Derweil nimmt meine Beste erfreut zur Kenntnis, dass es unter Deck zwei Duschen, fliessend warmes Wasser, Kochplatte und Kühlschrank gibt.

Leinen los zum Praxistest. Ich stehe zum ersten Mal in meinem Leben am Ruder – und fahre Schlangenlinien. Zuviel Grad nach Steuerboard mit noch mehr Grad nach Backboard ausgleichen zu wollen, verursacht den Schlingerkurs. Francois erklärt mir das Prinzip der ruhigen Hand, das auf nur geringen Korrekturen am Ruder fusst – und schon dieselt Mercurey schnurgerade dahin. Geht doch! Auch das Aufstoppen habe ich im Griff, danach ist Wenden auf der Zorn und Anlegen am Ufer fast ein Kinderspiel. Auch dank der beiden Strahlruder und dem ästhetischen Umgang meiner Besten mit den Tauen, die sie erst kunstvoll auf die Spitze des Bootshakens und dann um die Eisenpoller an Land drapiert. Das erinnert mich zwar stark an das Magnetangeln in meiner Kindheit, aber es funktioniert.

Das Schleusentor sieht aus wie ein Nadelöhr

Die erste Schleuse ist in Sicht, die Ampel davor zeigt Grün, wir dürfen einfahren. Und mir ist mulmig. Weil das geöffnete Schleusentor aus der Ferne aussieht wie ein Nadelöhr. Ob wir da durchpassen? Natürlich tun wir das, nachdem wir uns im Schneckentempo genähert und die aushängenden Fender rund ums Boot zweimal leicht die Mauer links und rechts geküsst haben. Selbsterklärend, warum die aufgeblasenen Plastikteile auch während der Fahrt nie eingeholt werden. „Ich brauche für unsere 24 Boote pro Jahr um die 700 neue Fender,“ bemerkt Francois trocken. Ob das eine versteckte Warnung ist? Jedenfalls halten wir, nachdem ich mit einem energischen Zug an einer Eisenstange den automatischen Schleusvorgang ausgelöst habe, unsere Mercurey brav vorn und hinten an den Tauen fest und lassen erst wieder los, als wir das nächste Level erreicht haben. Dann fahren wir vorsichtig aus. „Gut gemacht,“ lobt der Locaboat-Chef, bleibt aber – sicher ist sicher – noch für eine weitere Staustufe, ehe er uns mit der Gelassenheit eines Mannes, der sich des Vollkaskoschutzes für das Schiff gewiss ist, von Bord geht und dem Canal de la Marne au Rhin überlässt.

Langsam und fast lautlos schippern wir kanalaufwärts. Bei acht Stundenkilometern zieht die Umgebung in Zeitlupe vorbei. Wie ein warmer Mantel breitet sich die hereinbrechende Dämmerung über uns aus. Von den Treidelwegen an beiden Uferseiten, die so heissen, weil dort früher die Frachtkähne getreidelt, also gezogen wurden, überholt uns rechts ein einsamer Jogger, von links grüsst klingelnd eine Radfahrergruppe. Die beiden Fischer, die wir auf unserem Weg zur dritten und letzten Schleuse an diesem Tag passieren, sitzen mit ihren Angeln reglos wie Statuen in ihren Klappstühlen. Und wir bekommen eine Ahnung davon, was einen Hausboot-Urlaub ausmacht: Entschleunigung vor allem, die Natur erleben und die Freiheit, an Land zugehen, wo und wann es einem gefällt. Wir legen unter dem Schiffshebewerk bei Arzviller an, einem technischen Wunder, von dem gleich die Rede sein soll. Zunächst hieven wir unsere beiden Fahrräder, die wir auf der Heckplattform festgezurrt hatten, auf den Treidelweg und radeln gemütlich die zwei Kilometer zu einem wunderbaren Restaurant, das uns Francois empfohlen hatte. Zwei Tipps dazu: 1. Unbedingt Fahrräder mitnehmen, die es bei Locaboat für 40 Euro pro Stück und Woche zu mieten gibt, und sich 2. einen Kanalführer besorgen, in dem nicht nur die Reiserouten illustriert und beschrieben sind, sondern auch Ausflugsziele und Restaurantipps stehen.

„Schiff Ahoi“ und ein geniales Schiffshebewerk

Die „Brasserie des Eclusiers“ („Brauerei des Schleusenwärters“), an einem Campingplatz gelegen, war ein Volltreffer. Schönes Ambiente unter freiem Himmel, zwei hervorragende Drei-Gänge-Menüs, dazu eine gute Flasche Rosé und ein ausnehmend charmanter Service für nicht einmal 65 Euro – perfekt. Danach ein letztes Glas auf dem Oberdeck unterm funkelnden Himmelszelt. Auf den Laienchor zu Helene Fischers „Atemlos“, Ohrenbeschwerden erzeugend vorgetragen von den feiernden Passagieren der beiden glücklicherweise in genügend Abstand liegenden Boote vor uns, hätten wir gerne verzichtet. Auch auf das zum Trinkspruch missbrauchte „Schiff Ahoi!“. Trotz unzähliger Versuche gelang es den fröhlichen Nachbarn allerdings nicht, unseren tiefen Schlaf zu stören.

Die Helene-Gesangshelden waren erstaunlicherweise bereits verschwunden, als wir – gemeinsam mit drei anderen Booten – in der Riesenwanne des Schiffshebewerks anlegten. Die wiegt mit Wasser gefüllt rund 850 Tonnen und damit ungefähr gleich soviel wie zwei Gegengewichte, die von zwei Elektromotoren von je 120 PS angetrieben werden. Mit diesem Konstrukt, das seit 1968 in Betrieb ist, wird ein Höhenunterschied von fast 50 Meter überwunden, für den es vorher auf dreieinhalb Kilometer 17 Schleusen und acht bis zehn Stunden Fahr- und Wartezeit brauchte. Der Treppenlift für Hausbootfahrer ist nach 25 Minuten am Ziel. Wie das geht? Sehr raffiniert: Bei der Bergfahrt wiegt die Wanne mit den Schiffen weniger als die Gegengewichte, weil sie mit weniger Wasser gefüllt wird. Bei der Talfahrt mit mehr Inhalt ist die Wanne schwerer als die Gewichte.

Tunneldurchfahrt mit kleinen Hindernissen

Da staunt der Laie – und auch der Käpt’n wundert sich. Aber nicht lange, denn die nächsten Herausforderungen warten. Es gilt, die Tunnel von Arzviller (2’306 Meter) und Niderviller (475 Meter) zu durchfahren – jeweils einspurig und nur spärlich beleuchtet. Trotz der schlanken Breite von Mercurey blieben da rechts und links nur ein knapper Meter. Die gute Nachricht: Wir kamen durch, wenn auch mit leichten Verlusten. Die schlechte: Mit der Persenning schrammten wir ein paar Mal an der Tunneldecke entlang, wobei wir die Rundung jeweils leicht vergrösserten und uns die Lehmbrocken zahlreich um die Ohren flogen. Blöd auch, dass meine Beste den Tisch zum Lunch bereits gedeckt hatte: Köstlicher Schinken, leckere Salami, prachtvolle Tomaten, knuspriges Baguette – nun alles garniert mit feinen, rötlichen Bröseln. „Ich esse keine hundert Jahre alten Mikrobakterien“, entschied sie und entsorgte die Delikatessen im bordeigenen Mülleimer.

Die Schönheit der Natur auf einem sich durch Lothringen schlängelnden Kanal liessen die Schrecksekunden schnell vergessen. In dichten Wäldern verneigten sich die Bäume im Wind und grüssten mit raschelndem Laubwerk. Fussgänger winkten uns freundlich zu, entgegenkommende Boote sandten Hupsignale, auf kleinen Brücken, die wir passierten, standen staunende Kinder. Und wir begriffen: Es sind die Kleinigkeiten, die eine Reise mit dem Hausboot so grossartig machen. Sinne, die der Alltag mit seiner hektischen Flüchtigkeit verschüttet, werden wieder freigelegt. Sehen. Hören. Riechen. Fühlen.

Unerwartete Begegnung mit dem Sternekoch

Kurz hinter Gondrexange bogen wir ab in den Canal de la Sarre, der auch Saar-Kohlenkanal genannt wird und bis in die Nähe von Saarbrücken führt. Wir aber hatten nach gut 40 Kanalkilometern unser Tagesziel fast erreicht, als wir noch einmal auf neue Höhepunkte zusteuerten: Erst der Etange de Gondrexange, ein 650 Hektar grosser See, den im Mittelalter Mönche für die Fischzucht aushoben, danach der Etange au Stock, in dessen unmittelbarer Nähe wir an der Pont d’Albeschaux unseren Liegeplatz für die Nacht fanden. Und dann nix wie rein in die Badeklamotten, rauf aufs Fahrrad und dann allein zu Zweit im klaren, frischen Wasser des Stocksee schwimmen. Herrlich!

… und plötzlich fühlten wir uns wie die Besitzer einer Megajacht in – sagen wir mal – der Bucht von Saint Tropez. Das kam so: Im Guide Fluvial (klingt besser als „Kanalführer“) hatten wir das Restaurant Chez Michéle in Languimberg entdeckt, riefen an und gaben uns als Hausboot-People zu erkennen. „Kein Problem, wir holen Sie ab,“ hörte ich zu meiner Verblüffung. Eine Viertelstunde später stand ein freundlicher junger Mann in Küchenmontur vor unserer Mercurey, der sich als Bruno Poiré zu erkennen gab – es war der mit einem Michelin-Stern dekorierte Küchenchef. Wie seine Kochkünste waren? So grossartig jedenfalls, dass meine Beste viel darum geben würde, um an die Rezepte für die Terrine mit dem gefüllten Kartoffelbrei, die sagenhaft zart zubereitete Dorade und den Schokokuchen mit flüssiger Schokolade zu kommen. Die Preise? Drei Zaubergänge in einem Sternelokal für 65 Euro. Noch Fragen?

Eine eindeutig positive Reisebilanz

Sollte es welche zur Rückfahrt geben, so verlief diese – auch wenn es für manchen enttäuschend klingen mag – ohne besondere Zwischenfälle. Sogar durch die Tunnel kamen wir unfallfrei, wobei der Käpt’n zugeben muss, dass uns die Beste mit dem von ihr so geliebten Bootshaken einige Male auf Distanz zu den Lehmwänden halten musste. Aber als wir mit der untergehenden Sonne wieder im Hafen von Lutzelbourg einliefen, durften wir Landratten durchaus stolz auf unser Hausboot-Abenteuer sein. Zwar hatten wir nach einer unfreiwilligen Begegnung mit der Uferböschung den Verlust eines Fenders zu beklagen, dazu besagte Abschürfungen an der Persenning nebst erhöhtem Aufwand für die Endreinigung durch Lehmverschmutzung an Bord. Aber was ist das schon im Vergleich zu einem unvergleichlichen, bis dato nicht gekannten Erlebnis?

Das musste begossen werden, und zwar mit Champagner aus dem Schreibwarenladen von Lutzelbourg. Nicolas Feuillatte, las ich auf dem Etikett, bevor die Gläser klangen. Und als ich gerade daran dachte, ihn in Nicolas Fregatte umzubenennen, fragte die Beste von Allen: „Wohin fahren wir das nächste Mal mit dem Hausboot?“ Das war das Beste von Allem.

Weitere Informationen: www.locaboat.com.

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