Gardasee: Auf Perlensuche am Westufer

Wenn der touristische Belagerungszustand vorüber ist, beginnt am Gardasee die schönste Zeit. Ungestört lassen sich Desenzano, Sirmione oder Salò entdecken. Auch Brescia ist einen Abstecher wert. Perlensuche an und um den „Lago di Garda“.

„Professore, buongiorno,“ grüsst der Kellner aus dem Eiscafé, und Michele Nocera winkt freundlich zurück. Der 60-jährige ist unser Sirmione-Erklärer, keiner kann das besser als er. Der kleine Mann mit der schwarzen Hornbrille, dem grauen Schnauzer und dem kleinen Wohlstandsbäuchlein ist eine Berühmtheit im berühmten Touristenziel am Gardasee. Hier kennt ihn jeder, und das liegt nicht nur daran, dass Michele in Sirmione geboren wurde und immer dort gelebt hat, sondern wegen seines Fachwissens über einen anderen prominenten Bewohner. Michele schreitet voran, führt uns durch den kleinen Stadtpark und weiter hinauf zur Villa Cortine, einem prächtigen Palasthotel, in dem sich die Reichen und die Schönen Ruhe vom Touristentrubel kaufen können – ab 600 Euro für das Zimmer. Schräg gegenüber der noblen Herberge steht eine dunkelgelbe, herrschaftliche Villa, die eingerahmt ist von Palmen, Zypressen und Fliederbüschen. „In dieser Villa,“ erklärt Signore Nocera mit fast feierlich klingender Stimme, „in dieser Villa hat Maria Callas gelebt.“

Michele und Maria, das ist eine ganz besondere Verbindung. Und der andere Grund, warum unser Guide ein so geachteter Mann ist. Musikwissenschaftler und Journalist von Beruf, hat er inzwischen zehn Bücher über die Callas verfasst. Als kleiner Junge, so erzählt der schreibende Verehrer, sei sie des Öfteren zu ihnen nach Hause gekommen. Sein Vater habe die Instrumente gespielt, die Callas dazu gesungen. Fast zehn Jahre lebte die Opern-Diva mit ihrem italienischen Ehemann Giovanni Battista Meneghini in der Villa über dem Gardasee, ehe sie sich wegen eines gewissen Aristoteles Onassis scheiden liess. Der Rest ist Geschichte, und wenn Michele zum Besten gibt, Maria Callas habe auf dem Sterbebett 1977 in Paris ein wehmütiges „Ich sehne mich nach Sirmione“ gehaucht, kann man das glauben – oder auch nicht. Der Callas-Kult wird am Südufer des Gardasees ohnehin gepflegt. Etwa mit dem Palazzo Callas, einer Ausstellungs- und Eventlocation am Marktplatz. Oder mit der Trattoria Maria Callas in der Via S. Salvatore, einem wunderbaren kleinen Restaurant, das auf dem Weg liegt zu einem feinen Augenschmaus. Im Parco Publico überblickt man den Osten und den Westen des Gardasees.

Lady Charlotte und die Isola del Garda

Die schönste Art, den Lago zu geniessen, ist aber unbestritten eine Bootstour. Wir lassen uns von Desenzano nach Salò den Fahrtwind um die Nase wehen und passieren die mächtige Felsformation des Rocca di Manerba, auf dessen Hochebene es neben vornehmen Ferienhäusern auch einen kleinen Nationalpark zum Klettern und Wandern gibt. Und dann taucht auch schon die Isola del Garda auf, gerade mal 900 Meter lang, ein wenig mehr als 100 Meter breit und doch die grösste Insel im See. Zypressen und Zitronen, Olivenbäume und Oleander, Pappeln und Palmen – die ganze Pflanzenwelt der Lombardei scheint auf diesem grünen Streifen versammelt. Und eingebettet die Villa Borghese wie ein verwunschenes Märchenschloss. Auch nach dem Tod ihres Mannes Camillo Carazza, der 1981 starb und der Spross einer Adelsfamilie aus Bologna war, blieb die Besitzerfamilie dort wohnen: Die Witwe Lady Charlotte Sarah Alexandra Chetwynd-Talbot, Tochter des englischen Earl of Shrewsbury mit ihren sieben Kindern. Seit 2002 sind auch Besucher erwünscht, die Carazzas verdienen an Führungen, Events, Meetings oder Hochzeiten. Nicht ganz freiwillig, wie unser Capitano Paolo weiss: „Die Insel und die Villa in Schuss zu halten kostet viel Geld.“ Spricht’s und reibt zur Bekräftigung Daumen und Zeigefinger kräftig aneinander.

Keine halbe Seemeile weiter öffnet sich vor uns die Bucht von Salò, an dessen Pier die festgetäuten Boote plätschernd schaukeln. Auf dem Kai flanieren die Touristen vor prächtigen Palazzi und bunten Häusern. Bei nebligem oder stürmischen Wetter, so erklärt mir Paolo, waren diese Farbtupfer Orientierung für heimkehrende Fischer, um nach Hause zu finden. Finden – ein gutes Stichwort. Denn wie überall am Gardasee lohnt sich ein Blick hinter die Postkartenmotive der Uferpromenaden. In den kleinen, verwinkelten Gassen findet man die wahren Kostbarkeiten, die das italienische dolce far niente so liebenswert machen. In Salò ist eine davon die Trattoria di Mezzo in der gleichnamigen Via. Schon das urtypische Ambiente in einem Kellergewölbe ist ein Traum, das Essen erst recht. Wir hatten „Mambolini a la Breciana“, Rouladen vom Schwein mit Butter und Salbei, drei Stunden lang im Ofen gegart und unfassbar zart. Dazu ein Gläschen Rotwein aus der Region – eine unschlagbare Kombination.

In Brescia schlägt das Herz der Mille Miglia

Dass am Gardasee gute Tropfen gedeihen, ist bekannt. Aber im Anbaugebiet Veltènesi, den grünen Hügeln zwischen Salò und Desenzano, planen die Winzer gerade eine kleine Revolution, wie Alessandro Lazzago vom kleinen Weingut Le Chiusure in San Felice del Benaco verrät. Er sagt: „Wir sehen für den Rosé grosse Chancen, bei uns etwas nach dem Vorbild der Provence in Frankreich aufzubauen.“ Das ist angesichts der Tatsache, dass der Rosé im Trend liegt und die Winzer am Gardasee künftig an einem Strang ziehen und schon die diesjährige Ernte unter dem gemeinsamen Begriff „Chiaretto“ auf den Markt kommen wird, nicht die schlechteste Idee. Und wenn die Qualität ähnlich gut ist wie bei Alessandro Lazzago, wird nicht nur dessen Kleinproduktion von 10’000 Flaschen schnell vergriffen sein.

Vom Weingut nach Brescia sind es gut 40 Kilometer, die sich für einen Abstecher allemal lohnen. Denn die Stadt, die lange unter dem Aschenputtel-Image einer Industriestadt litt, hat sich zu einem touristischen Schmuckstück entwickelt und lädt zum Shoppingbummel und Sightseeing ein. Zu Letzterem gehört natürlich ein Besuch des Mille Miglia Museums in der Viale della Bornata, in dem die 90-jährige Geschichte dieses einstigen mörderischen Rennens von Brescia nach Rom und zurück auf öffentlichen Landstrassen mit legendären Original-Rennwagen und Fotos dokumentiert ist. In Brescia schlägt bis heute das Herz der Mille Miglia, und wenn sie alljährlich dort gestartet wird, herrscht der Ausnahmezustand. Den ewigen Rekord hält übrigens sei dem 10. Juli 1948 Sterling Moss, der die 1’597 Kilometer mit seinem Mercedes 300 SLR und einem Journalisten namens David Jenkins als Beifahrer in unfassbaren 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden zurücklegte. Durchschnittsgeschwindigkeit: 157,65 km/h! Nach diversen tödlichen Unfällen war 1964 Schluss mit der Raserei, seit 1986 ist die Mille eine Zuverlässigkeitsfahrt für Oldtimer. So ist gewährleistet, dass die Gentleman-Driver heil aus Rom zurückkehren. Und sich noch ein paar Tage am Gardasee von ihrem Abenteuer erholen können. In Desenzano, Sirmione, Salò – oder anderswo.

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