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Am 14. September wird Günter Netzer 80 Jahre alt. Bis heute sind sich viele Fussball-Fans einig: Einen wie ihn gibt es selbst in den Heldensagen des internationalen Fussballs nicht oft.
Auch Götter kommen in die Jahre, selbst ein Gott der Jugendlichkeit. So einer war Günter Theodor Netzer. Eine Art Dorian Gray des Fussballs. Wie das ewig anmutende Bildnis männlicher Ästhetik, gepaart mit der Eleganz des schönen Spiels. „Dä Jünter“: Nicht nur in seiner niederrheinischen Heimat Mönchengladbach haben sie ihn wie eine Gottheit angebetet, wenn er auf dem Spielfeld regierte, mit kantigem Gesicht und langen, wehenden, blonden Haaren.
Alles perdu, längst vorbei, denn der Netzer unserer Tage ist ein älterer Herr, der recht mürrisch dreinschauen kann, doch meist ein wissendes Lächeln zeigt. Sein Gesicht ist immer noch kantig, die Stimme klar, den rheinischen Singsang hört man kaum noch raus. Die Haare sind jetzt halb-lang und wesentlich dunkler. Immerhin, er hat sie noch, was in seinem Alter keine Selbstverständlichkeit ist. Am 14. September wird Günter Netzer 80.
Kein bedingungsloser Kämpfer
Vergessen ist er jedoch nicht. Die Älteren erinnern sich mit Wehmut an das mythische Fussballgenie, das die Jüngeren heute noch auf YouTube bewundern. Auch sie gelangen zu der Erkenntnis: Einen wie ihn gibt es selbst in den Heldensagen des internationalen Fussballs nicht oft.
Er wurde in Mönchengladbach geboren und ist in der Stadtmitte aufgewachsen. Er war ein Einzelkind, der Vater hatte eine Samenhandlung, die Mutter ein Lebensmittelgeschäft. Mit neun Jahren hatte er sich Borussia Mönchengladbach angeschlossen und 1963 mit 19 seinen ersten Profivertrag unterschrieben. Da war er bereits ein Jungstar, ein technisch versierter Mittelfeldspieler, der beste Kicker in der Mannschaft von blutjungen Talenten wie Berti Vogts (77), Jupp Heynckes (79) und Bernd Rupp (82), die zwei Jahre später in die Bundesliga aufstieg.
Die beiden jungen Teams von Gladbach und dem FC Bayern München dominierten weitgehend die Liga. Netzer führte die Gladbacher „Fohlen-Elf“ zu zwei deutschen Meisterschaften (1970, 1971), in 230 Partien schoss er selbst 82 Tore (mit Schuhgrösse 47).
Er war kein bedingungsloser Kämpfer, sondern nahm sich im Match seine Pausen. Ein klassischer Zehner und intelligenter, aber trainingsfauler Spielmacher mit strammem Schuss. Seine Übersicht und Intuition, seine zentimetergenauen Pässe, die unweigerlich zu Toren führten, begeisterten nicht nur im Stadion die Fans.
Der „FAZ“-Literaturkritiker Karl Heinz Bohrer schrieb entrückt: „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstossende Netzer hatte ‚Thrill‘. ‚Thrill‘, das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver. Das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum. ‚Thrill‘, das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende.“
Zwischen Fussball-Feuilleton und Nobel-Disco
Auf einmal hatte Deutschland zwei neue Stars: den eleganten Filigran-Kicker Franz Beckenbauer (1945-2024) von Bayern München und den Fussball-Popstar Günter Netzer von Borussia Mönchengladbach, der auch Intellektuelle ins Stadion oder vor den Fernseher lockte. „Ich bin schon ein wenig stolz darauf, dass ich vielleicht der erste Spieler war, wo sich das Feuilleton mit beschäftigt hat, dass die in meine Art und Weise, Fussball zu spielen, doch Dinge hineininterpretiert haben, die wir in unserer derben Fussballsprache nicht ausgedrückt haben“, sagte er dem Deutschlandfunk.
Bereits 1965 rief die deutsche Nationalmannschaft, zunächst konnte sich der Individualist Günter Netzer nicht gegen den von Bundestrainer Helmut Schön (1915-1996) favorisierten Spielmacher Wolfgang Overath (80, 1. FC Köln) durchsetzen. Doch 1972 übernahmen Beckenbauer und Netzer die Regie und entsannen das mitreissende „Ramba-Zamba“-System, wie die „Bild“ schrieb, bei dem sie sich kongenial bei der Lenkung des Teams unterstützten. Der schlaue Schön liess sie gewähren, und die wohl beste Nationalmannschaft aller Zeiten gewann die Europameisterschaft.
Günter Netzer war im Zenit seines Ruhms und galt als einer der besten Fussballregisseure der Welt. In Mönchengladbach war er sowieso der unumschränkte Herrscher, der lässig mit Porsche, Jaguar und schliesslich im Ferrari durch die Stadt fuhr, mit den Malern Markus Lüpertz, Georg Baselitz und Sigmar Polke befreundet war, der coole Klamotten trug und die Nobel-Disco „Lover’s Lane“ besass. Wer am Niederrhein was auf sich hielt, musste am späten Abend und in der Nacht zum „Jünter“. Bisweilen konnte man ihn selbst sehen. Immer nüchtern, immer freundlich, aber irgendwie auch unnahbar. Seine Freundin war selbstredend ein Model.
Machtkampf mit dem Coach
Seinem Vereinstrainer Hennes Weisweiler (1919-1983), dem offiziellen Herrscher der Borussia, muss das alles nicht mehr geschmeckt haben, denn der Netzer, der auf dem Platz als sein verlängerter Arm galt, rannte nicht immer wie Weisweiler wollte und gab Widerworte. In einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ beschrieb er anschaulich dieses kinoreife Verhältnis, bei dem sein enger Freund Berti Vogts zu vermitteln versuchte:
„Weisweiler sprach wieder einmal nicht mit mir. Ich hatte eine Muskelverletzung. Der Arzt sagte, dass ich sechs Wochen Pause und viel Wärme brauche. Also flog ich mit meiner Freundin für vierzehn Tage in die Karibik. Ich kam zurück, Weisweiler war stocksauer. Er sagte zu Berti: ‚Komm mal mit, wir müssen was besprechen.‘ Zu mir sagte er: ‚Und Sie kommen auch mit, Herr Netzer.‘ So spazierten wir zu dritt nebeneinander her, bis Weisweiler sagte: ‚Berti, frag deinen Captain, wo er die ganze Zeit war.‘ Ich lief neben Berti, und Berti fragte mich, treu, wie er war, wo ich gewesen sei. Ich sagte: ‚Ich war in der Karibik, wegen der Wärme. Wie es der Arzt verlangte.‘ So ging das hin und her, bis ich sagte: ‚Berti, sag deinem Trainer, ich war weg, weil ich mich von ihm erholen musste.‘ Berti protestierte: ‚Das sag ich nicht‘, und ist davongelaufen. Und als Berti weg war, war auch das Gespräch beendet, weil Weisweiler nicht mit mir reden wollte.“
1973 unterschrieb Günter Netzer bei Real Madrid, Deutschland und vor allem Mönchengladbachs Trainer Weisweiler waren entsetzt. Im letzten Spiel für die Borussia, ausgerechnet dem Pokalfinale gegen den alten Lokalrivalen 1. FC Köln, setzte der beleidigte Coach seinen besten Mann auf die Bank. Zur Pause stand es in einem spannenden Spiel 1:1, Weisweiler wollte Netzer einwechseln, der weigerte sich. Also sassen beide weiterhin schmollend nebeneinander.
Als es in die Verlängerung ging, wechselte Netzer sich selbst ein. Er stand auf, zog die Trainingsjacke aus, ging zum Trainer und sagte: „Chef, ich spiel‘ jetzt dann!“ Der sagte kein Wort, Netzer kam auf den Platz, Doppelpass mit seinem Mannschaftskollegen Rainer Bonhof (72), dann krachte „Jünters“ Schuss nach seiner zweiten Ballberührung in Kölns Tordreieck. Gladbach gewann den Pokal 2:1 dank Netzers wichtigstem Tor.
Auch in Madrid hatte er seine Mühen mit dem Training. „Ich habe die Konditionstrainer gehasst wie keinen Mensch auf der Welt“, sagte er dem WDR, „am meisten habe ich den Konditionstrainer von Real Madrid gehasst. Der war mal jugoslawischer Meister über 1.500 Meter. Das war die absolute Hölle… Und das Schlimmste war: Paul Breitner“, der zur selben Zeit in Madrid unter Vertrag stand. „Breitner lief immer vorne weg. Der war der fitteste Spieler Europas und hat auf mich keine Rücksicht genommen.“
Drei Jahre lang lenkte „der blonde Engel mit den grossen Füssen“, wie ihn in Madrid die Fans nannten, als bestbezahlter Real-Fussballer das Spiel der Königlichen und führte sie zu zwei Meisterschaften und zwei Pokalsiegen, 1976 ging er zu Grashoppers Zürich, wo er seine aktive Karriere mit 32 Jahren beendete.
Manager, Medienunternehmer, Moderator
Man sah ihn ein Jahr später in Hamburg, elegant wie immer, diesmal mit Krawatte. Von 1978 bis 1986 war Günter Netzer Manager des HSV, es wurde die erfolgreichste Zeit des Clubs. Netzer engagierte die Trainerlegenden Branko Zebec (1929-1988) und Ernst Happel (1925-1992), der HSV wurde in dieser Zeit dreimal Deutscher Meister (1979, 1982, 1983) und holte 1983 den Europapokal der Landesmeister, den Vorläufer der Champions League.
Günter Netzer ging zurück in die Schweiz, gründete eine Werbeagentur und wurde ein bedeutender Medienunternehmer, der äusserst erfolgreich mit TV-Rechten handelte. Seit 2015 ist er auch Schweizer Staatsbürger.
Daneben war er, gemeinsam mit dem TV-Journalisten Gerhard Delling (65), bis 2010 über 13 Jahre Fussballkommentator in der ARD. Die beiden waren für ihre provokanten, aber amüsanten Reibereien vor der Kamera sehr beliebt und wurden 2000 mit dem Grimme-Preis und 2008 für ihr „hohes sprachliches Niveau“ mit dem Medienpreis für Sprachkultur ausgezeichnet.
Günter Netzer ist seit 1987 mit dem Model Elvira Lang verheiratet, die gemeinsame Tochter Alana ist jetzt 37. 2016 wurden ihm bei einer viereinhalbstündigen Herz-OP sechs Bypässe gelegt, seine Frau Alana hatte ihn gerade noch rechtzeitig in die Klinik gebracht.
Auch im gehobenen Alter ist er „Feingeist, Sprachartist und Gentleman“ („Die Zeit“) geblieben. Seinen Ruhestand – „Mein Leben ist sowas von langweilig, so wie es einem 80-Jährigen gebührt“ – geniesst er mit seiner Familie in Zürich. „Demütig und dankbar“ für das, was ihm an Glück im Leben widerfahren ist.