Stephan M. Rother: So gruselig war das Mittelalter wirklich

Im Mittelalter ging es nicht zimperlich zu. Welche Schrecken es wirklich barg, erklärt „Ein Reif von Eisen“-Autor Stephan M. Rother passend zu der Nacht des Schreckens, Halloween.

Halloween, die Nacht des Gruselns, geht auf uralte Ursprünge zurück. Wer könnte besser wissen, was es damit auf sich hat, als Fantasy-Autor und Historiker Stephan M. Rother (49), der mit „Ein Reif von Eisen“, dem ersten Teil der „Königschroniken“, gerade die deutsche Antwort auf „Game of Thrones“ vorgelegt hat?

Darum geht es bei den „Königschroniken“

Rother entwirft darin eine mittelalterliche Welt, die germanische und nordische Mythen, staufisches Kaisertum und orientalische Kulturen mit fantastischen Elementen kombiniert. Das Schicksal der Welt liegt in den Händen dreier Frauen: der Sklavin Ildris, die geheimnisvolle Kräfte besitzt, der jungen, ehrgeizigen Leyken aus dem Oasenvolk des Südens und Sölva, der unehelichen Tochter des Stammesfürsten Morwa. Können sie gegen die Dunkelheit bestehen? Kann eine von ihnen das Land aus der Dunkelheit führen?

Doch wie viel Wahrheit steckt in den Chroniken? Was ist dran an den Mythen, die uns heute noch erschauern lassen? Wie gruselig war das Mittelalter wirklich? Die Antworten darauf liefert der Fantasy-Autor im Interview.

Stephan Rother über die Ursprünge von Halloween

Rother: Samhain, der Ursprung des Halloweenfestes, markierte bei den Kelten den Beginn des Winters. Die Natur stirbt dahin, der Gedanke an menschliche Vergänglichkeit liegt nahe, und die Schleier des Nebels können Sie in diesen Tagen beinahe mit Händen greifen. Die Toten sind unterwegs; mit dem Allerheiligenfest konnte die christliche Kirche die Auswahl auf die freundlicheren Toten beschränken. Allerdings hat das Mittelalter auch insgesamt einen eher praktischen Umgang mit dem Tod. Wenn sie an einer Krankheit leiden, fesseln sie diese Krankheit nach den Anweisungen eines Rituals an einen Riemen aus Hirschleder, den sie anschliessend einem Toten mit ins Grab geben. Dem Toten kann die Krankheit nicht mehr schaden, und sie sind ihr Gebrechen los.

In „Ein Reif von Eisen“ wimmelt es von solchen Ritualen, von Hexen und von finsterer Magie. Haben die Menschen des Mittelalters tatsächlich an so etwas geglaubt?

Rother: Sie haben daran geglaubt, wie ein Kranker an die Wirksamkeit seiner Medizin glaubt, selbst wenn es sich in Wahrheit um einen Placebo handelt. Obwohl das Präparat gar keine Wirkstoffe enthält, wird schon dieser Glaube eine positive Wirkung haben. Wenn Sie selbst und alle Menschen um Sie herum davon überzeugt sind, dass im Sumpf der Geist eines Gehenkten umgeht, werden Sie in nebligen Nächten womöglich die erstaunlichsten Dinge zu sehen bekommen.

Für die Figuren in „Ein Reif von Eisen“ scheinen solche gruseligen Erscheinungen fast zum Alltag zu gehören.

Rother: Heute haben wir den Bewegungsmelder, der unsichtbar den Gartenzaun bewacht. Das Mittelalter kennt ein ähnliches System: Die Hage-Zussa, die geisterhafte Hecken-Sitzerin, aus der sich unser Wort ‚Hexe‘ entwickelt hat. Oder nehmen Sie eine freundlich-sprudelnde Quelle: Für das Mittelalter ist sie zugleich ein unheimlicher Ort. Wo das Wasser aus der Welt des Unsichtbaren in die Welt des Sichtbaren tritt, muss das auch umgekehrt möglich sein. Quellen gelten als Einstieg in das Totenreich der Göttin Hel, die ‚Hölle‘. Als ‚Frau Holle‘ hat die düstere Göttin bis heute überlebt. Unsere Wohnungstür sichern wir mit einem Türalarm. Im Mittelalter wird ein Bauopfer unter der Türschwelle beigesetzt, an dem die Unholde sich gütlich tun können, so dass sie keinen Grund mehr haben, die Wohnung zu betreten.

In einer besonders blutigen Szene in „Ein Reif von Eisen“ kauert der junge Dieb Pol unter dem Schafott. Auffällig ist, dass die Henker offenbar eine Fülle von Regeln zu beachten haben.

Rother: Da war das Mittelalter penibel. Zur Enthauptung kniet der Verurteilte aufrecht vor dem Henker, der ihm aus der Körperdrehung heraus mit dem Richtschwert den Kopf abschlägt. Ein Bewegungsablauf, der Golfspielern vertraut sein dürfte. Wobei Henker vor Missgeschicken keineswegs gefeit sind: Geht der erste Schlag in Nacken oder Hinterkopf, wird meist um Nachschlag gebeten. Das ist tatsächlich der Fachbegriff. Besondere Stümper unter den Henkern mussten bis zu einem Dutzend Mal zuschlagen und konnten dann froh sein, wenn sie von der Menge nicht ihrerseits gelyncht wurden. Andererseits wird von wahren Meistern ihrer Kunst berichtet, denen es gelang, zwei Verurteilte mit ein und demselben Schlag zu enthaupten oder aber mitsamt dem Opfer auch noch einen Blumenstrauss zu köpfen, den dieses in der Hand hielt.

Enthauptungen gehörten also zu den grausamsten Strafen?

Rother: Ganz im Gegenteil. Beim Vierteilen wird das Opfer von Pferden auseinandergerissen, die an seine Arme und Beine gebunden werden. Meist ist der Körper des Verurteilten zu diesem Zeitpunkt aber bereits ausgeweidet worden. Chroniken der Kreuzfahrerzeit wiederum berichten davon, dass lediglich der Anfang der Gedärme an einen Pfahl gebunden wurde, woraufhin man die Opfer solange unter Peitschenhieben im Kreis trieb, bis sie tot zusammenbrachen. Und wo die eigene Fantasie versagt, holt man sich Anregungen. Im Epos von Tristan und Isolde soll die Königin wegen ehelicher Untreue auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Da macht eine Gruppe von hundert grässlich entstellten Aussätzigen den Vorschlag, man möge sie doch lieber ihnen übergeben. Die Krankheit steigere ihre Begierde. Was Isolde da erwarte, sei schrecklicher als jede Todesstrafe.

Sie selbst, Stephan M. Rother, sind ein Mensch unserer eigenen Zeit. Warum sind Sie selbst so fasziniert von dieser unheimlichen Zeit, dass Sie diese Geschichte geschrieben haben, „Ein Reif von Eisen“, mit all ihren unheimlichen Details?

Rother: Ich halte mich selbst nicht für besonders abergläubisch. Doch gilt nicht der Skorpion als unheimlichstes unter den Tierkreiszeichen? Nicht ohne Grund fällt auch Halloween in das Zeichen des Skorpions, und ich selbst bin als Skorpion wenige Tage vor Halloween zur Welt gekommen. Mein Grossvater war übrigens ein sehr gefragter Wünschelrutengänger und hätte mit Sicherheit eine Menge über die Welt des Unsichtbaren zu erzählen gewusst. Leider habe ich nichts von seiner Gabe geerbt – doch vielleicht habe ich ja meinen eigenen Weg gefunden?

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