Martin Luther King: Der Mythos lebt

Nur wenige Menschen entfalten auch 50 Jahre nach ihrem Tod eine solche Strahlkraft wie Martin Luther King. Er brachte in euteuten USA eine Welle in Bewegung, die bis heute nicht in Vergessenheit geraten ist. Ein Rückblick.

Ein Mann und sein Land. Er rüttelte den mächtigsten Staat der Welt auf wie kein anderer vor und nach ihm. Ein Visionär, ein politischer Messias, ein Märtyrer? Er war der Mann, der Amerika verändert hat. Auch – oder gerade – mit seinem Tod. Heute vor 50 Jahren wurde der Bürgerrechtler Dr. Martin Luther King („A Testament of Hope“) im Alter von nur 39 Jahren in Memphis im US-Bundesstaat Tennessee ermordet.

Sein gewaltsames Ende erzeugte eine weltweite Schockwelle, ähnlich wie die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy am 22. November 1963. Schlagartig wurden den Menschen nicht nur in den USA bewusst, dass man da einen Denker ausgelöscht hat, aber nicht seine Gedanken von Freiheit, Frieden und Gleichberechtigung. MLK, so die populäre Abkürzung, wurde zum Mythos.

Selbst zu Lebzeiten wurde Martin Luther King nicht so verehrt wie in der Gegenwart. Er ist neben den US-Präsidenten George Washington und Abraham Lincoln der dritte (und einzige schwarze) Amerikaner, zu dessen Ehren ein nationaler Gedenktag eingeführt wurde. Nicht zuletzt auch deswegen hat sein Vermächtnis bis heute Auswirkungen.

Fast jedes Schulkind in den USA kennt seine berühmte Rede „I have a Dream“. Der Satz ging von der Hauptstadt der USA in die ganze Welt hinaus, und er beschwor den Traum von einer gerechteren Gesellschaft herauf wie nie zuvor eine politische Vision.

Ein Theologe ruft zu Ungehorsam auf

Martin Luther King, ein promovierter Theologe und Baptistenpastor aus Georgia, hatte seit den 1950er-Jahren gegen den in den Südstaaten der USA noch üblichen Rassismus gekämpft und zu zahlreichen Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die Rassentrennung aufgerufen. Die Politiker des Landes waren, je nach parteipolitischem Lager, mal fasziniert, mal begeistert, mal beunruhigt, mal entsetzt von dem Charisma des Mannes, der mit einer fast poetischen Sprache und seiner warmen Baritonstimme Millionen von Menschen zu mobilisieren vermochte.

„Am 28. August 1963 kam all das zusammen: Kings Organisationstalent, sein Wille, die Obrigkeit durch grosse Protestaktionen herauszufordern, das aber friedlich zu tun, und sein Können als Redner“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“. An jenem Tag also stand MLK in Washington auf den Stufen zu dem Denkmal von Abraham Lincoln, dem Präsidenten, der die Sklaverei abgeschafft hatte. Vor ihm standen und sassen in der dampfenden Sommerhitze über 250’000 Menschen, unter ihnen auch über 60’000 Weisse, auf dem weiten Parkstreifen der National Mall. Sie hörten Worte, die sie direkt ins Herz trafen.

„I have a dream – ich habe einen Traum. Dass sich eines Tages diese Nation erheben und die wahre Bedeutung ihres Bekenntnis ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen sind. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt. Ich habe heute einen Traum!“

So wurde „I have a dream“ zu einem der berühmtesten Sätze der Weltgeschichte, denn er war ja auch erfolgreich. 1964 verabschiedete der Kongress den Civil Rights Act, der den Schwarzen in den USA die vollen Bürgerrechte garantierte und die Rassentrennung für illegal erklärte. Und ein Jahr später wurde der Voting Rights Act gegen die Benachteiligung von Minderheiten bei Wahlen verabschiedet.

Sein Kampf gegen das Establishment

Martin Luther King führte einen leidenschaftlichen Kampf gegen das politische Establishment, gegen die flammende Moral seiner Grundsätze war weder in Washington noch in den Südstaaten die übliche politische Rhetorik gewachsen. Manche sahen in ihm sogar einen amerikanischen Reformator.

Die Namensgleichheit mit Martin Luther war nicht zufällig. Geboren wurde er als Michael King. Historiker gehen davon aus, dass sein Vater, ebenfalls Pastor, bei einer Deutschlandreise 1934 so beeindruckt von dem Wirken des Augustinermönchs war, dass er nach der Rückkehr in die USA seinen eigenen Namen sowie den seines Sohnes änderte. Aus Michael King wurde Martin Luther King, da war er gerade mal fünf Jahre alt.

Sein Kampf für soziale Gerechtigkeit wird 1964 mit der grössten Auszeichnung honoriert, die die Menschheit zu vergeben hat: Martin Luther King erhält den Friedensnobelpreis. Er ist mit 34 der bis dahin jüngste Preisträger. Die Nachricht erreicht ihn im Krankenbett im St. Joseph Hospital in Atlanta (Georgia). Die zahllosen in- und ausländischen Auftritte waren zeitweise zu viel für seine Gesundheit.

Pressekonferenz aus dem Krankenhaus

Noch in der Klinik gibt er eine Pressekonferenz und sagt: „Ich sehe das nicht als Preis für mich persönlich an. Es ist die Anerkennung für die Disziplin, den weisen und edlen Mut von Millionen edlen Schwarzen und Weissen, die versuchen Gerechtigkeit zu erreichen und die Herrschaft der Liebe in unserem Land durchzusetzen.“ Das Preisgeld von rund 54’000 Dollar stellt er komplett für die Bürgerrechtsbewegung zur Verfügung. 50 Jahre später sollen seine Kinder darüber streiten, ob sie die Nobelpreismedaille ihres Vaters verkaufen oder nicht.

Nach dem tragischen Tod von John F. Kennedy ist MLK der grosse Säulenheilige, dessen Licht in Zeiten des kalten Krieges weit über die USA hinaus leuchtet. Das gefällt nicht jedem Amerikaner, vor allem nicht jedem amerikanischem Politiker. Mit seinen Massenkundgebungen und Streikaufrufen hat sich King mächtige Feinde geschaffen.

Überdies erhebt er seine Stimme gegen das wachsende US-Engagement im Vietnamkrieg. Ausserdem mischt er sich in den Präsidentschafts-Wahlkampf ein, indem er indirekt für den demokratischen Amtsinhaber Lyndon B. Johnson Partei ergreift. Er sagt den Millionen seiner Anhänger: „Ich werde euch sagen, wen ihr nicht wählen sollt“, nämlich den republikanischen Hardliner Barry Morris Goldwater, der die Bürgerrechtsgesetze rückgängig machen und „eine Atombombe in die Herrentoilette des Kreml werfen“ wolle.

Protestbriefe mehren sich

Bereits bei der Verleihung des Nobelpreises überfluten die Protestbriefe zahlreicher amerikanischer Südstaatler das Nobelpreiskomitee. Einer seiner fanatischsten Gegner ist der FBI-Chef J. Edgar Hoover (1895-1972). Er wirft King Kontakte zu Kommunisten vor. Dazu sagt MLK in seiner unwiderstehlichen Rhetorik: „Es gibt so viele Kommunisten in dieser Freiheitsbewegung wie Eskimos in Florida“, woraufhin Hoover ihn öffentlich als „den notorischsten Lügner des Landes“ bezeichnet.

Die Bundespolizei überwacht ihn nun auf Schritt und Tritt. Die Ermittlungen enthüllen, dass sich King auf zahlreiche aussereheliche Affären eingelassen hat. Diese Ermittlungsergebnisse stecken FBI-Agenten freundlich gesinnten Journalisten zu, samt Abhör-Tonbandaufzeichnungen aus Hotelzimmern, wo Martin Luther King sich mit Frauen getroffen hat. Doch selbst konservativste Südstaatenzeitungen lehnen es ab, solchen „Schmutz“ zu veröffentlichen.

Vermutlich hat die Präsidentenwitwe Jacqueline Kennedy (1929-1994) auch diese FBI-Informationen erhalten, denn in einem 1964 geführten, streng geheimen Interview bezeichnet sie MLK als „Mogelpackung“, er sei „ein Heuchler“, der Sexorgien in Hotels arrangiert habe. Die Tonbandaufzeichnung des Gesprächs mit dem Historiker Arthur Schlesinger blieb allerdings unter Verschluss und wurde erst 20 Jahre nach Jackie Kennedys Tod veröffentlicht.

Die FBI-Untersuchungen haben King verunsichert. In Bezug auf sein Privatleben befürchtet er zu Recht, es könnte „einige peinliche Enthüllungen“ geben. Seine Mitstreiter empfehlen ihm „trotzigem Widerstand… Lass doch Hoover seine verdammten Bänder veröffentlichen“. Eine solche Kampagne würde dem FBI-Chef in der öffentlichen Wahrnehmung mehr schaden als Martin Luther King.

Wer forderte ihn zum Selbstmord auf?

Doch der Nobelpreisträger ist angeschlagen. Kurz vor der Entgegennahme des Preises wird King – mutmasslich vom FBI – zum Selbstmord aufgefordert. „King“, heisst es in einem anonymen Brief, „du bist fertig. Es gibt nur noch einen Ausweg für dich. Den schlägst du am besten selbst ein, ehe dein abscheuliches, abnormes und betrügerisches Wesen vor der Nation ausgebreitet wird.“ Dem Schreiben ist eine Tonbandaufnahme aus einem Hotelzimmer beigelegt.

Martin Luther King ist nach solchen massiven Anfeindungen kein unangefochtener Held mehr, seine Popularität sinkt auf einen Tiefpunkt. Er gehört nicht mehr zu den zehn am meisten bewunderten Personen in den USA. Der als „Apostel der Gewaltlosigkeit“ hofierte Friedensnobelpreisträger wird in seinen letzten beiden Lebensjahren für viele zu einer „unerwünschten Person“. Wahrscheinlich hat er mit seiner scharfen Kritik an weiten Teilen der US-Politik die Gesellschaft bzw. zu viele Politiker der USA überfordert. Die Gegner reagieren mit blindem Hass.

Gegen Ende seines Lebens äussert MLK mehrmals die Befürchtung, sein Traum könne sich in einen Alptraum verwandeln. Der an sich humorvolle King ist nun oft niedergeschlagen, von Depressionen ergriffen. Er, der für Millionen von Menschen eine unantastbare moralische Autorität darstellt, leidet unter Schuldgefühlen wegen seiner ausserehelichen Beziehungen. King wird von Selbstzweifeln geplagt.

Anfang April 1968 reist er mit seinem Team nach Memphis/Tennessee. Er will einen Streik unterbezahlter schwarzer Arbeiter der städtischen Müllabfuhr unterstützen und sie zur Gewaltlosigkeit aufrufen. Am 3. April hält er eine Ansprache, die später als Bergpredigt vom Memphis in die Geschichte eingeht und in der viele einen Abschied hineindeuten.

Ahnte er seinen Tod voraus?

„I have been to the mountaintop“, er sei auf dem Berggipfel gewesen, sagt King und ruft seine Anhänger auf, sie sollten Amerika zu dem machen, was es sein kann; sie sollten Amerika zu einer besseren Nation machen. Und er endet mit Worten: „Ich sorge mich um nichts, ich fürchte keinen Menschen. Denn meine Augen haben den Glanz der Wiederkehr des Herrn gesehen.“ Er habe das gelobte Land erblickt und mache sich keine Sorgen mehr um ein langes und erfülltes Leben. Diese Sätze werden von vielen Demonstranten als Todesahnung ausgelegt.

Am nächsten Tag, den 4. April 1968, legen King und sein Team den 8. April als neuen Termin für eine Demonstration fest. Kurz nach 18 Uhr betritt er den Balkon in der zweiten Etage seines Lorraine Motels, in dem er logiert, und bespricht mit seinen Mitarbeitern die Kirchenlieder für eine Massenversammlung am Abend. Da trifft ihn die Kugel eines Attentäters in den Hals. MLK verblutet.

Den polizeilichen Ermittlungen zufolge hat der ziemlich primitiv strukturierte Berufskriminelle James Earl Ray (1928-1998), vorbestraft wegen Einbruch, Postbetrug, Raubüberfall etc., von einem gegenüberliegenden Gästehaus mit einem Gewehr mit Zielfernrohr auf Martin Luther King geschossen. Ray gilt als fanatischer Rassist, der am Tatort die Waffe samt seiner Fingerabdrücke hinterlässt.

James Earl Ray kann mit dem Auto vom Memphis im Süden der USA bis nach Toronto in Kanada flüchten. Am Ende fliegt er nach England, von dort nach Lissabon und wieder zurück nach London. Beim Versuch, ein Flugzeug in den Apartheid Staat Rhodesien zu besteigen, wird er am 8. Juni 1968 auf dem Flughafen Heathrow festgenommen und in die USA ausgeliefert.

Todesschütze widerruft sein Geständnis

Seine Anwälte empfehlen ihm, die Tat zu gestehen, um der Todesstrafe zu entgehen. Ray legt ein Geständnis ab und wird zu 99 Jahren Haft verurteilt. Drei Tage später streitet er jedoch den Mord an MLK ab. Er stirbt 1998 in Haft.

In der amerikanischen Öffentlichkeit wird dieser Tatverlauf nicht nur von Verschwörungstheoretikern angezweifelt. Hinter dem hochpolitischen Mord werden einflussreiche reaktionäre Kreise vermutet, auch die Bundespolizei FBI und der Geheimdienst CIA. Doch stichhaltige Beweise gibt es für diese Hypothese nicht.

Mit seinem Tod wurde Martin Luther King zu einem überlebensgrossen Heroen stilisiert – ein säkularer Heiliger mit menschlichen Schwächen. 50 Jahre nach dem Mord ist die politische Emanzipation der schwarzen Bevölkerung längst vollzogen. Es gibt grosse Fortschritte: Die Zahl der schwarzen Universitätsabsolventen hat sich verdreifacht. Amerika hatte mit Barack Obama den ersten schwarzen Präsidenten.

Und doch hat sich gerade in den letzten beiden Jahren das politische Klima in den USA wieder verschlechtert. Die Unterschiede bei den Einkommens- und Vermögensverhältnissen sind nach wie vor gross. Eine Serie von Polizeigewalt und Übergriffen auf schwarze Bürger hat das Land erschüttert.

Sein Wirken hält bis heute an

Knapp sechs Wochen nach dem Schulmassaker von Parkland in Florida haben in den USA Hunderttausende vorwiegend junge Leute für striktere Waffengesetze demonstriert. In Washington war auf der Pennsylvania Avenue zwischen Kapitol und Weissem Haus über eine halbe Million Menschen unterwegs, eine der grössten Demonstrationen seit den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Sie alle sagten der mächtigen Waffenlobby NRA einen gewaltlosen Kampf an – und allen Politikern, die sich vom NRA im Wahlkampf unterstützen lassen.

Unter ihnen stand ein kleines Mädchen, neun Jahre alt. Es sprach mit seiner kindlichen Stimme zu den Massen. „Ich habe einen Traum, dass genug genug ist. Dies sollte eine waffenfreie Welt sein. Punkt.“ Das Kind ist Yolanda Renee King, die neunjährige Enkelin des Bürgerrechtlers Martin Luther King.

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