„Aladdin“ ist eine würdige Neuauflage

Wie lässt sich das „Aladdin“-Märchen im 21. Jahrhundert erzählen? Guy Ritchie unternahm mit seiner Realverfilmung des Disney-Zeichentrick-Klassikers von 1993 einen Versuch. Der vor allem funktioniert, weil er mit überkommenen Klischees aufräumt.

Spätestens seit November 1993 wissen Disney-Jünger: Arabische Nächte sind viel heisser als heiss. Während in Europa der Vertrag von Maastricht in Kraft trat, flimmerte die Geschichte vom selbstlosen Dieb Aladdin mit der Wunderlampe zum ersten Mal über Kinoleinwände. Jetzt, 26 Jahre und rund eine ganze Generation später, erzählt Disney seinen Fans das fabelhafte Märchen aus 1001 Nacht noch einmal.

Drei Fragen musste Regisseur Guy Ritchie (50, „Codename U.N.C.L.E.“) mit seinem Remake beantworten: Lässt sich der Stoff in eine Zeit transportieren, in der Frauen nicht mehr selbstverständlich als Objekt männlicher Begierde gelten, ohne dabei die Geschichte zu stark zu verändern? Kann die Real-Verfilmung eines Zeichentrickfilms genauso charmant-witzig sein, wie das Original? Und schafft es Will Smiths (50, „Suicide Squad“) Dschinni, der unsterblichen Vorlage von Robin Williams gerecht zu werden, dabei aber eigene Akzente in der Figur zu setzen? Die Antworten lauten „Ja“, „Jein“ und „Ja“.

Ja, der Stoff lässt sich zeitgerecht aufarbeiten. Die Prinzessin Jasmin (Naomi Scott, 26) ist in der Neuverfilmung mehr als nur der Preis, um den sich die Männer streiten. Zwar durfte die schöne Prinzessin schon im Zeichentrick-Original verkünden, sie sei keine Trophäe und entscheide selbst, wen sie zum Ehemann nehme. Am Ende blieb sie aber dann doch ein Preis für den Sieger, und der Sultan war froh, dass die Tochter endlich unter der Haube ist. Dieses Frauenbild ist jungen Mädchen (und Jungen) heute nicht mehr ernsthaft verkaufbar, war es eigentlich damals schon nicht. Hier musste Ritchie handeln.

Selbstmächtige Jasmin

Und er tat das in zweifacher Hinsicht: Jasmin bleibt zwar die schöne Prinzessin, die am Ende heiratet. Sie bekommt aber eine viel mächtigere Stimme, inklusive eigener Agenda. Die Neuverfilmung zeigt Jasmin als eine Frau, die sich selbst bildet, Ideen zur Staatslenkung entwirft und Diplomatie der Gewalt vorzieht. Diese Frau will führen, zur Not auch gegen den Willen des Vaters (David Negahban, 50). Der erklärt ihr, sie könne nicht Herrscherin von Agrabah sein, weil es noch nie eine Herrscherin gegeben habe, wovon sich Jasmin aber unbeeindruckt zeigt.

Und: Ritchie liess Naomi Scott den Freiraum, die Figur aus einem weiblichen Blickwinkel heraus zu gestalten. Unlängst verriet Scott etwa dem Magazin „Noizz“: „Ich wollte, dass sie reif, stark und empowered (engl. etwa „selbstbestimmt“, Anm. d. Red.) ist – aber gleichzeitig auch menschlich.“ Das Ergebnis überzeugt auf ganzer Linie.

Wo die Original-Jasmin am Ende als Dienerin des bösen Wesirs Dschafar (Marwan Kenzari, 36) gezeigt wurde, ohne ein einziges Mal allein gesungen zu haben, darf Naomi Scotts Figur gleich zweimal ihr eigenes Lied singen. Das Stück heisst treffender Weise „Speechless“ (engl. für „sprachlos“) und handelt davon, wie Jasmin eben genau das nicht mehr sein will.

Statt sich wegverheiraten zu lassen, erhebt sie ihre Stimme gegen die Zustände, das System, gegen die Männer – und beweist selbst im Angesicht der Niederlage Führungsstärke und Willenskraft, wo Soldaten blinden Gehorsam vorziehen. Vor allem Scotts zweite Darbietung des Stücks ist derart kraftvoll in Gesang und Inszenierung, dass sie ihren männlichen Kollegen samt und sonders die Show stiehlt und mit Abstand den schönsten, beeindruckendsten und rührendsten Moment im ganzen Film hat.

Scotts Jasmin begegnet den Männern mindestens auf Augenhöhe und zeigt, dass „Aladdin“ auch ohne die überkommen Prämisse – exotische Frau als Objekt männlicher Begierde – funktioniert, ohne dass der Original-Plot darunter leidet. Im Gegenteil, diese Jasmin ist eine Bereicherung für das Märchen aus 1001 Nacht.

Jein, vom Charme des Originals geht viel verloren.

Da ist es ein stückweit verschmerzbar, dass die Übertragung in einen Realfilm dem Streifen viel von seinem ursprünglichen Charme nimmt. Zwar darf auch im neuen Aladdin viel und herzlich gelacht werden. Vor allem in den Parts mit Dschinni Will Smith, die mal wegen ihrer Situationskomik überzeugen, dann wieder mit Wortwitz oder dem Zusammenspiel mit Aladdin-Darsteller Mena Massoud (27). Aus letzterem ergibt sich sicher die lustigste Szene des Films.

Die Zeichentrick-Slapstick-Komik aber fehlt der Neuverfilmung, trotz des reichlichen Gebrauchs von Computergrafiken. Das macht sich vor allem beim Papagei Jago (Alan Tudyk, 48) bemerkbar. Dessen Rolle hat Ritchie einerseits vom überzeichnet-bösen und ewig-miesgelaunten Gehilfen Dschafars in eine bitterböse und missratene Karikatur des Originals verformt. Andererseits wählten die „Aladdin“-Macher eine naturalistische Darstellung der Figur, die ihr nicht bekommt.

Wo Original-Jago beim Aufprall auf eine Wand etwa in bester Zeichentrick-Manier pfannkuchenartig verformt wird und dabei sprücheklopfend Federn lässt, bleibt der neue Jago ein Papagei der nachplappert, was die Menschen um ihn herum sagen. Der gesamte Witz der Figur geht so verloren – sehr schade und vor allem unnötig, denn die Jago-Parts des Originals hätten sich am Computer nachbauen lassen.

Das ist doppelt unverständlich, da Aladdins treuer Affe Abu (Frank Welker, 73) die Überführung in 3D-Grafik wesentlich besser überstanden hat. Ritchie hat den diebischen Sidekick weitestgehend unangerührt übernommen. So darf auch der neue Abu immer mal wieder den kleptomanischen Langfinger geben, wirkt dabei aber nicht mehr ganz so gierig wie noch vor 26 Jahren.

Bei den Musical-Szenen hingegen beweist Ritchies „Aladdin“, dass sich Zeichentrick sehr wohl in Realfilm bringen lässt. Die opulenten Szenen überzeugen allesamt – mal mit schnellen Plansequenzen, mal mit Breakdance-Darbietungen und vor allem beim bombastisch inszenierten Einzug des Prinzen Ali Ababwa in Agrabah, der wesentlich mehr hermacht, als im Original.

Ja, der Dschinni überzeugt

Letzteres ist nicht nur den Möglichkeiten moderner Computergrafik und der Musik von Alan Menken (69) geschuldet, sondern vor allem Will Smiths Darbietung des legendären Dschinni. Smith, selbst Musiker, bringt die Szene regelrecht zum Strahlen. Gleichzeitig ist sie der einzige Moment, von dem man behaupten kann, sein Dschinni übertreffe den des 2014 verstorbenen Robin Williams.

An dessen Vorlage muss sich Smith messen – und die Latte liegt hoch. Williams verlieh der Figur mit seinen Imitationen von Schauspielern wie Arnold Schwarzenegger (71) und Robert De Niro (75) und anderen Künstlern, etwa dem mittlerweile verstorbenen Komiker Rodney Dangerfield, einen unvergleichlichen Charme. Das zu kopieren wäre Will Smith niemals gelungen, zumal viele der Anspielungen heutzutage ohnehin verloren gegangen sind.

Statt sich aber darauf zu verlegen, Williams Talent für Imitationen zu imitieren, interpretiert Smith den Dschinni auf eine eigene, überraschend extravagant-grellbunte Art, gepaart mit Smith-typischem Wortwitz und Situationskomik. So entsteht ein Dschinni, der durchaus als liebevolle Hommage an das Original gelten darf. In den Worten von Guy Ritchie: „Er (der Dschinni, Anm. d. Red.) versteht die Liebe, er versteht das Verlangen, er versteht die ganz grossen Fragen menschlicher Existenz“ – Worte, die den grossartigen Robin Williams treffend beschreiben.

Lohnt die Neuauflage den Kinobesuch?

Guy Ritchie hat mit einigen wenigen Abstrichen eine würdige Neuinterpretation eines nicht ganz so zeitlosen Disney-Klassikers abgeliefert. „Aladdin“ ist sehens- und hörenswert, unterhält über die gesamte Laufzeit hinweg (auch Erwachsene) prächtig und zeigt statt antiquiertem Frauenbild eine selbstmächtige Disney-Prinzessin, die gerade jungen Zuschauerinnen und Zuschauern als zeitgemässes Vorbild dienen wird.

Die Vorlage bleibt dabei an jeder Ecke erkennbar – im Guten, wie im Schlechten – und dürfte damit auch beinharte Fans des Originals abholen. Wer aber mit Musical-Filmen nichts anfangen kann, der sollte „Aladdin“ besser meiden. Alle anderen dürfen diesem gelungenen Märchen-Film eine Chance geben. Am 23. Mai ist Kinostart.

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