Krank durch die Corona-Krise? Daran erkennen Sie eine Zwangsstörung

Kann man durch die Corona-Krise eine Zwangsstörung entwickeln? Psychologin Ulrike Scheuermann erklärt, welche Verhaltensweisen darauf hindeuten können.

In der Corona-Krise kann auch die Psyche in Gefahr sein. Durch die Pandemie „können viele psychische Krankheiten verstärkt werden oder auch neu auftreten“, erklärt Psychologin Ulrike Scheuermann im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news. In der emotionalen Situation, die für uns alle zurzeit gelte, seien die Menschen „mit ungewohnt viel Ungewissheit, was die Zukunft betrifft in verschiedenen Lebensbereichen, konfrontiert“, so die „Self Care“-Autorin: „Da ist es normal, dass man verunsichert ist, und das kann auch Ängste auslösen.“

Was dann passiert, beschreibt Scheuermann so: „Es gibt Menschen, die versuchen Angst zu verarbeiten, indem sie in ihren Gedanken oder mit ihrem Verhalten schon das Aufkommen des Gefühls vermeiden. Manche verdrängen dann das Ausmass der Bedrohung oder verfallen in Aktionismus. Andere reduzieren die Komplexität des Geschehens auf einfache Erklärungen. Oder man reagiert mit einer psychischen Erkrankung, zum Beispiel einer Depression.“

Wann spricht man von einer Zwangsstörung?

Könnte die Corona-Krise auch zu mehr Zwangsstörungen führen? „Viele Betroffene von Zwangsstörungen fühlen sich zurzeit in ihrem zwanghaften Verhalten bestätigt“, sagt die Psychologin dazu. „Bei ihnen werden aufgrund der Corona-Pandemie Denk- und Verhaltensweisen aktiviert, die sie auch sonst von sich kennen: Die Vorstellung, sich mit Keimen oder ähnlichem zu infizieren, ist ein sehr häufiger Zwangsgedanke, der mit der Zwangshandlung des ständigen Händewaschens oder -desinfizierens verbunden ist. Und das ist ja DAS Thema momentan. Betroffene von Kontaminationsängsten kennen ihr Leben nur so, wie es die Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln jetzt der gesamten Bevölkerung vorschreiben.“

Eine Zwangsstörung liege vor, so Scheuermann, „wenn ein innerer Zwang oder Drang vorhanden ist, bestimmte Dinge denken oder tun zu müssen. Die Betroffenen wehren sich zwar gegen den Drang und empfinden ihn selbst als übertrieben, sogar sinnlos und unangenehm, können ihn aber nicht willentlich verhindern und müssen ihn ständig wiederholen. Gefühle wie Angst, Ekel oder Scham beherrschen den Tag. Wenn dies über mindestens zwei Wochen an den meisten Tagen so ist, sind die Kriterien für die Diagnose einer Zwangsstörung erfüllt“.

Welche Zwangsstörungen kann die derzeitige Krise auslösen?

„Auch wenn wir dazu noch keine statistischen Zahlen haben: Zwänge treffen jetzt mit Realität zusammen. Der Waschzwang und das ständige übertriebene und zwanghafte Desinfizieren der Hände wird wahrscheinlich noch häufiger und in übertriebener Form, als es aufgrund einer Ansteckungsgefahr sein müsste, praktiziert. Oder auch das Tragen von Maske – trotz genug Abstand zu anderen Menschen. Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und die Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) führen zurzeit eine Befragung mit Menschen mit Zwangsstörungen durch, um herauszufinden, wie sie die Lage in der ‚Corona-Krise‘ einschätzen und welche Auswirkungen die Pandemie auf die aktuelle Symptomatik hat. Betroffene können sich hier melden: https://ww3.unipark.de/uc/corona_zwang/

Welche Menschen sind besonders gefährdet, durch die Corona-Pandemie eine Zwangsstörung zu entwickeln?

Die Corona-Krise sei ein zusätzlicher Stressor, sagt Scheuermann, „den viele, nicht nur psychisch Kranke, als belastend erleben. So können psychische Krankheiten generell leider gefördert werden. Zudem leiden viele Menschen an einer Zwangsstörung, wissen es aber nicht“. Die Krankheit sei noch wenig bekannt, werde deshalb oft nicht richtig oder spät erkannt und behandelt – obwohl die Zwangsstörung mit schätzungsweise 2,3 Millionen Betroffenen die vierthäufigste psychische Erkrankung in Deutschland ist, erklärt die Psychologin. „Und die Menschen, die in der Vergangenheit schon mal unter einer Zwangsstörung gelitten haben, sind jetzt sicher gefährdeter, wieder eine Zwangsstörung zu entwickeln oder bestehende Zwangssymptome zu verstärken.“

Wie kann man einer Erkrankung entgegenwirken?

„Wenn es gelingt, ist es das Beste, sich die im Zusammenhang mit der Symptomatik auftretenden Ängste bewusst zu machen, sie so zu akzeptieren und auszuhalten“, rät die Expertin. „Wichtig ist jetzt wirklich gute Selbstfürsorge. Dazu gehört Bewegung, gerne Sport unter freiem Himmel, viel Schlaf und gesunde Ernährung. Das klingt so banal, aber ist tatsächlich wesentlich im Umgang mit psychischen Krankheiten. Und wenn möglich sollten die Betroffenen zudem verstärkt soziale Kontakte pflegen zur Familie, Freundinnen und Freunden. Das geht auch digital. Diese Netzwerke sind enorm wichtig, um sich psychisch zu stabilisieren. Wenn Zwangssymptome auftauchen und belasten, sollte man sie übrigens bitte nicht verschweigen, sondern sich mitteilen.“

Dieses Verhalten kann laut Scheuermann auf den Beginn einer Zwangsstörung hindeuten

Wer sehr viel wäscht oder putzt – zum Beispiel zwanzigmal täglich die Hände oder die Türklinken in der Wohnung. Wer übertrieben kontrolliert – z.B. fünfmal hintereinander, ob der Herd aus ist, bevor man die Wohnung verlässt, und noch ein sechstes Mal, wenn man schon auf der Strasse ist. Wer quälende Gedanken hat, die er oder sie loswerden möchte, aber nicht kann – wie etwa den Gedanken, einen bösartigen Tumor zu haben, obwohl bereits medizinisch geklärt ist, dass keine derartige Erkrankung besteht. Wer für Alltäglichkeiten sehr lange Zeit benötigt, etwa das morgendliche Zähneputzen – weil erst der Zahnputzbecher, die Tube, die Zahnbürste selbst vorab gereinigt werden müssen. Wer sich zwanghaft Gedanken um Ordnung und Symmetrie macht – zum Beispiel überall nach sechseckigen Formen sucht.

Wer mindestens eines dieser Symptome zeige und sich dadurch beeinträchtigt fühlt, „hat sehr wahrscheinlich eine Zwangsstörung“, erklärt die Psychologin. „Wenn man dieselbe Handlung ausführen oder demselben Gedanken folgen muss, liegt eine Zwangsstörung vor.“

So sieht die Behandlung aus

Eine psychotherapeutische Behandlung kann helfen: „Man kann sich zuerst an seinen Hausarzt, oder direkt an einen Psychotherapeuten, einen Facharzt für Psychiatrie/Psychotherapie oder eine Klinikambulanz wenden. Auch der städtische Krisendienst kann helfen. Dort findet oftmals eine anonyme Beratung statt, was hilfreich sein kann, um so weniger Scham zu erleben, was häufig ein grosses Problem bei Betroffenen ist.“ Die Psychotherapien könnten zurzeit auch meistens durchgeführt bzw. fortgesetzt werden, auch per Videositzung oder Telefon, so Scheuermann. „Die Regelungen werden ja auch gerade erleichtert, damit die Menschen auch in Quarantäne weiter behandelt werden können.“ Unter www.zwaenge.de gibt es weitere Informationen von der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

Und wie sieht die Behandlung aus? „Die aktuelle deutsche S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Zwangsstörung benennt vor allem die störungsspezifische kognitive Verhaltenstherapie als Mittel der ersten Wahl. Eine rein medikamentöse Behandlung ist nicht zu empfehlen. Entspannungsverfahren, Verhaltenspläne, soziale Unterstützung und Aufarbeitung der zugrundeliegenden Ängste und deren Auslöser sind die Grundlage der Behandlung“, erklärt Scheuermann.

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