Helmut Kohl: Das Leben, Wirken und der Tod des „schwarzen Riesen“

Helmut Kohl überragte zu seinen Spitzenzeiten alle anderen nicht nur körperlich. Er war der grosse Europäer. Seine letzten Jahre waren jedoch ganz anders: Krankheit, Streit und Familienprobleme.

Nein, der Alte war Helmut Kohl (1930 bis 2017) schon lange nicht mehr. Dafür haben ihm seine letzten Jahre zu übel mitgespielt. Die Folgen eines schlimmen Sturzes im Jahr 2008 haben ihn in den Rollstuhl gezwungen und seinen Sprachfluss eingedämmt, 2015 gab es Komplikationen bei einer Hüft-OP und Kohl war mehr als 24 Wochen in stationärer Behandlung. Dann der Groll auf die Nachfolger an der Parteispitze und in der Regierung, der Ärger mit den beiden Söhnen und um die Veröffentlichung des nichtautorisierten vierten Bandes der Kohl-Biografie durch den Journalisten und ehemaligen Kohl-Vertrauten Heribert Schwan. Das alles muss arg an seiner Psyche und Physis gezerrt haben. Jetzt ist Kohl, der grosse Europäer, im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Ludwigshafen gestorben.

Nur noch ein Schatten des „schwarze Riesen“

Lustig war das letzte Jahrzehnt für Altkanzler Helmut Kohl wirklich nicht. Der Mann, der einst nicht nur wegen seiner unbändigen Kraft und stattlichen Körpergrösse von 1,93 Meter der „schwarze Riese“ genannt wurde, war nur noch ein Schatten seiner selbst – für viele Menschen ein bewegender Anblick. Es wurde ruhig um ihn. Selbst zu seinem 85. Geburtstag gab es kein grosses Fest, sondern nur ein Zusammentreffen im privaten Kreis.

Vermutlich wollte Kohl diese Form von Isolation selbst so. Er, zu dem (fast) alle aufschauten und der früher seine politische Omnipotenz so gern bewundern und feiern liess, hatte sich, so schien es zumindest, als grimmiger Senior zurückgezogen.

Er überragte sie alle – nicht nur körperlich

Dabei hatte er sie immer alle überragt, und das nicht nur durch seine Körpergrösse. Mit 39 war er der jüngste Ministerpräsident, ein aufbruchfreudiger Politiker, der sein Bundesland nach vorn brachte. Mit 43 wurde er Bundesvorsitzender der CDU – und nach langem Kampf mit Parteifreunden und -feinden, mit 52 Bundeskanzler. Er hat viel einstecken müssen, vor allem am Beginn seiner Karriere.

Sein CSU-Widersacher Franz Josef Strauss (1915-1988) höhnte in München vor dem Vorstand der Jungen Union über den vermeintlichen Männerfreund: „Herr Kohl, den ich trotz meines Wissens um seine Unzulänglichkeit um des Friedens willen als Kanzlerkandidaten unterstützt habe, wird nie Kanzler werden. Er ist total unfähig. Ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür.“ Ein Teilnehmer liess ein Band mitlaufen und steckte es dem „Spiegel“ zu.

Das Satiremagazin „Titanic“ karikierte den Kohl-Kopf und machte ihn zur deutschlandweit belachten Birne. Der Parodist Stephan Wald spottete über seine Fremdsprachenkenntnisse und Pfälzer Aussprache, und wenn sich Kohl mal wieder vom „Mantel der Geschichte“ gestreift fühlte, wusste man nicht mehr, ob dies nun das Original oder doch nur die Parodie ist.

Kohl hat diese beissende, teilweise auch verletzende Interpretation seiner Person, so schreibt der Publizist Thomas Schmid in der „Welt“, von Anfang an „ungeheuer geärgert. Es traf ihn schwer, dass er als ‚Birne‘, als Trottel verspottet wurde“. Dennoch sei er unbeirrt „seinen Erfolgsweg“ gegangen. Schmid glaubt, dass ihn „tief sitzende Wut und unerschütterlicher Elan“ vorangetrieben haben. Immer weiter, immer höher.

Der „bedeutendste europäische Staatsmann“

Er regierte 16 Jahre lang das Land, fast zwei Jahre länger als Konrad Adenauer. Er gilt als „Kanzler der deutschen Einheit“, der entschlossen nach dem Fall der Mauer handelte. Und er war massgeblich an der Einführung des Euros beteiligt, eine Rolle, die heute kritischer gesehen wird als vor 20 Jahren. Bei der Verleihung des Henry-Kissinger-Preises an den Altkanzler sagte der frühere US-Präsident Bill Clinton (70) 2011 als Laudator, Kohl sei „der bedeutendste europäische Staatsmann seit dem Zweiten Weltkrieg“.

Natürlich gab es Widerstände gegen ihn, vor allem von Parteifreunden. Er hat sie platt gewalzt. 1989 die „Bremer Stadtmusikanten“, wie er die Parteirebellen nannte, die auf dem Parteitag in Bremen einen Putsch gegen den Chef gewagt und verloren hatten. Mit ihnen war Kohl ein für alle Mal fertig. Über seinen früheren Intimus Heiner Geissler (87) soll er gesagt haben: „Der Mann macht mich krank, ich kann ihn nicht mehr ertragen.“ Die Grande Dame der CDU, Rita Süssmuth (80), ist für ihn „eine Schreckschraube“, Norbert Blüm (81), auch ein enger Weggefährte von früher, „ein Verräter“. Nach der Wahlniederlage gegen Gerhard Schröder (73, SPD) 1998 und dem CDU Spendenskandal, bei dem Kohl sich – unter Berufung auf sein Ehrenwort – weigerte, die Geldgeber für die schwarzen Kassen der Partei zu nennen, ging die CDU auf Distanz zum „schwarzen Riesen“.

Er teilt aus

Der CDU-Patriarch teilte kräftig aus. Laut der Protokolle von Heribert Schwans vierter Kohl-Biografie nannte er den Parteifreund Friedrich Merz (61) ein „politisches Kleinkind“, der ehemalige sächsische Ministerpräsident und Altbundespräsident Christian Wulff (57) war für ihn „ein grosser Verräter“. Und über sein eigentliches politisches Ziehkind Angela Merkel (62) soll er gesagt haben: „Frau Merkel konnte ja nicht richtig mit Messer und Gabel essen. Sie lungerte bei den Staatsessen herum, sodass ich sie mehrfach zur Ordnung rufen musste.“

Mit Wolfgang Schäuble (74), seinem wichtigsten Mann bei der Wiedervereinigung, ist er in herzlicher Feindschaft vereint. Schäuble, der als enger Freund und Kronprinz Kohls galt, soll laut „Zeit“ selbst die Verbindung im Januar 2000 mit den Worten gekappt haben: „Ich habe wohl schon zu viel meiner knapp bemessenen Lebenszeit mit dir verbracht.“ Zwölf Jahre später bekräftigte der Finanzminister: „Meine Beziehung zu Helmut Kohl ist beendet.“

Zerwürfnis mit den Söhnen

Der härteste Schicksalsschlag ereilte Kohl am 5. Juli 2001. An diesem Tag nahm sich seine damals 68-jährige Frau Hannelore das Leben, angeblich hatte sie unter einer Lichtallergie gelitten. In der Folgezeit zerfiel die Familie. In einem „Stern“-Interview sagte der Altkanzler, er wolle seine Söhne Walter (53) und Peter (51) nicht mehr sehen: „Das Verhältnis ist nicht gut.“ Dieses Zerwürfnis hat auch mit Kohls zweiter Ehe zu tun. 2008 hatte er die Volkswirtin Dr. Maike Richter (Jahrgang 1964) geheiratet, die von 1994 und 1998 unter seiner Leitung im Bundeskanzleramt gearbeitet hatte. Beide Söhne wurden nicht zur Hochzeit eingeladen.

Walter und Peter Kohl warfen der neuen Ehefrau vor, den Zugang zum Vater zu kontrollieren, ihn abzuschirmen von ihren Familien, ihren Frauen und Kindern, Kohls Enkelkindern. Ein Eindruck, den auch einige Medien und ehemalige Weggefährten Kohls teilten. Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte den Eindruck, Maike Kohl-Richter sei deutlich darauf fixiert, um Kohl „eine Mauer zu bauen“. Dagegen sprachen der ehemalige Kanzler und seine Frau im „Stern“ von „einer schönen Ehe“, die ein Ausdruck von „Liebe und tiefer Verbundenheit“ sei. Dass Maike Kohl-Richter bei einem gemeinsamen Auftritt mal einen Hosenanzug und Schmuck der toten Hannelore getragen hat, hielt sie im Nachhinein für einen grossen Fehler, „aber es war nicht meine Idee, es war die Idee meines Mannes“.

Angela Merkel hielt ihn für „einen Segen“

Angela Merkel, einst „Kohls Mädchen“, hat offenbar ihren Frieden mit dem Senior von Oggersheim gemacht. Sie, die 1999 in einem „FAZ“-Artikel schrieb, die Partei müsse auch ohne Kohl „laufen lernen“ und damit den Bruch mit dem schwer gekränkten Altkanzler vollzogen hatte, zeigte später ungewöhnlich viel Herz und sagte der „Bild“ zu Kohls 85. Geburtstag : „Dieser Kanzler des Vertrauens war für uns Deutsche ein Segen.“

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