Tocotronic: Ein Outing im neuen Album?

Das neue Album der deutschen Indie-Rockband Tocotronic ist da und das Stück „Hey du“ klingt nach Outing. Wie es wirklich ist, erklären Dirk von Lowtzow und Jan Müller im Interview.

Das neue Album der Indie-Rockband Tocotronic ist ab sofort im Handel. „Die Unendlichkeit“ (Universal) ist eine Autobiografie, die mit der Kindheit beginnt und anders als bei Retrospektiven üblich mit einer Zukunftsvision endet. Ob das Stück „Hey du“ ein Outing ist, was im Jahr „1993“ so besonders war, wem das traurige Stück „Unwiederbringlich“ gewidmet ist und warum das gelungene Album der genialen, ehemals Hamburger Poeten so überraschend unpolitisch ist, erklären zwei der vier Musiker, Frontmann Dirk von Lowtzow (46) und Bassist Jan Müller (46), im Interview.

Worum geht es denn in dem Stück „Hey du“?

Dirk: Ich bin im Mittelbadischen zwischen Karlsruhe und Freiburg aufgewachsen, Jan und Arne [Zank] mitten in Hamburg und Rick [McPhail] in Maine, USA. Und trotz dieser völlig verschiedenen Orte verbinden uns ähnliche Biografien und ähnliche Erfahrungen. „Hey du“ erzählt von einer Lebensphase, in der man vielleicht so 15, 16 Jahre alt ist. Damals wurde ich relativ oft beleidigt, auch homophob beleidigt und bedroht, wenn ich beispielsweise einem androgynen Idol wie David Bowie nacheiferte und kostümiert wie er durch die Fussgängerzone gegangen bin. Dieses Gefühl, ein Aussenseiter zu sein, oder sich von Teilen der Gesellschaft ausgestossen zu fühlen, haben wir alle vier erlebt.

Es geht also nicht um ein Outing?

Dirk: Es geht nicht um die Offenbarung sexueller Präferenzen der einzelnen Bandmitglieder. Sexualität findet bei jedem statt wie er mag und das ändert sich ja vielleicht auch im Laufe der Jahre. Es geht um das Gefühl, als junger Mensch sexuell ambivalent zu sein und sich – bis heute – nicht einem gängigen Männerbild entsprechend zu verhalten.

Ein anderer Titel auf dem neuen Album heisst „1993“. Warum ist das Jahr so besonders?

Jan: In dem Jahr lernten Dirk und ich uns kennen. Arne und ich kannten uns ja schon lange aus der Schule. Es war das Jahr, in dem er nach Hamburg zog und auch das Jahr, in dem wir die Band gegründet haben. Der Song beschreibt diese Zeit, die für uns alle ein grosser Umbruch war. Vieles, was sich vorher nach Aussenseitertum angefühlt hat, mündete plötzlich in etwas Konstruktives. Das war eine sehr schöne, energiereiche Zeit, die im Endeffekt bis heute andauert.

Dirk: Ausserdem war in dieser Zeit die deutschsprachige Musikszene in Hamburg mit Bands wie Blumfeld und den Sternen etwas ganz Neues mit eigenem Selbstverständnis und Stil.

Warum war Hamburg damals so anziehend?

Dirk: Als Sehnsuchtsort war es für mich damals stärker ausgeprägt als zur gleichen Zeit Berlin. Dort kristallisierte sich Techno als weitreichende Jugendkultur heraus. Das hat mich aber nicht so gereizt. Wenn man Rockmusik mochte oder machen wollte, war Hamburg definitiv anziehender. Die Undergroundmusikszene war sehr intelligent, politisiert und geschmackssicher.

Jan: Und es war eine Live-Musikstadt, in der es noch Freiräume gab. Als die dann weniger wurden, begann die Abwanderung nach Berlin…

Im nächsten Stück, „Unwiederbringlich“, geht es um ein trauriges, einschneidendes Erlebnis…

Dirk: Das Stück handelt vom leider sehr frühen Tod meines engsten und langjährigsten Freundes. Wir sind zusammen aufgewachsen, er ist dann aber nicht nach Hamburg gezogen. In der Anfangszeit unserer Band hatte er uns aber bei den Touren begleitet und unterstützt. Dann ist er völlig überraschend im Alter von 26 Jahren an Krebs gestorben. Von diesem einschneidenden Erlebnis und auch von dem Gefühl, von der Kindheitswelt in eine Erwachsenenwelt übergetreten zu sein, handelt das Stück.

„Die Unendlichkeit“ ist ein Album mit viel Haltung, aber auch ein überraschend unpolitisches Album in einer enorm politischen Zeit. Warum?

Dirk: Dass man Kunst zutraut, politisch zu sein, finde ich schon gut und richtig. Aber wenn man sie dazu in die Pflicht nimmt, sind hinterher meistens alle enttäuscht, weil das Ergebnis doch nicht so gut ist. Ich glaube aber auch, dass man frühestens in zehn Jahren diese Zeit vernünftig reflektieren kann. Es sei denn, man ist ein Prophet – und selbst dann hätte es wahrscheinlich etwas von einer PR-Strategie.

Jan: Wenn man anfängt, etwas wie zum Beispiel Flucht oder Erstarken des Populismus zu verwerten, wird es schnell unappetitlich, finde ich. Und den Bekenntniszwang halte ich ebenfalls für etwas Schlimmes.

Dirk: Das Album entstand von Ende 2015 bis September 2017. In der Zeit ist sehr viel passiert. Ein Beispiel: Als ich angefangen habe, die Stücke zu schreiben, konnte sich kein Mensch vorstellen, dass Donald Trump Präsident werden würde. So ändern sich die Zeiten. Da kommt man mit einer Platte schnell zu spät, dazu dauert der Kunstwerdungsprozess zu lang…

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