Daran erkennen Sie, dass ein Alkoholproblem droht

Studien haben ergeben, dass sich das Trinkverhalten bei vielen Menschen während des Lockdowns verändert hat: Demnach wurde vermehrt zum Alkohol gegriffen. Der erhöhte Konsum kann jedoch schnell zu einer Abhängigkeit führen. Eine Suchtexpertin klärt auf.

Die Zeit während des Corona-bedingten Lockdowns haben sich hierzulande viele Menschen durch das ein oder andere Glas Wein mehr versüsst. Studien haben ergeben, dass der Alkoholkonsum in den Monaten der Quarantäne enorm gestiegen ist. Das kann langfristige Folgen für Körper und Geist haben, weiss Suchtexpertin Dr. med. Reingard Herbst. Im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news klärt die Chefärztin der NESCURE Privatklinik am See über mögliche Indizien für eine beginnende Abhängigkeit auf.

Frau Dr. Herbst, wie wirkt sich der Alkoholkonsum über einen längeren Zeitraum auf unseren Körper aus?

Dr. med. Reingard Herbst: Erfolgt über einen längeren Zeitraum ein erhöhter Alkoholkonsum, kann das diverse Folgen für unseren Körper haben. So stellt er eine Belastung für das Leberentgiftungssystem dar, welches ohnehin täglich eine Vielzahl an Aufgaben zu erledigen hat. Ausserdem verändern sich die Leber und der Wasserhaushalt des Körpers mit dem Alter.

Die Entgiftungsleistung durch das Enzymsystem der Leber wird geringer und langsamer und bei vielen älteren Menschen ändert sich zudem das Durstempfinden, es wird oftmals weniger wahrgenommen. Wenn dann anstatt der nötigen Menge Wasser Alkoholhaltiges zu sich genommen wird, erhöht sich der Alkoholgehalt im Blut sehr schnell. Eine zellschädigende Wirkung hat Alkohol ohnehin und nach neueren Studien führt regelmässiger Alkoholkonsum auch zu vorzeitiger Alterung des Gehirns.

Welche Organe sind von der Schädigung am meisten betroffen?

Herbst: Eine Schädigung durch erhöhten Alkoholkonsum ist grundsätzlich an allen Organen möglich. Im Vordergrund stehen Leber, Bauchspeicheldrüse, Gehirn und Herz.

Können Organe durch den gestiegenen Alkoholkonsum während des Lockdowns auch langfristige Schäden davontragen?

Herbst: In aller Regel sind unsere Entgiftungsorgane, in diesem Fall die Leber, sehr regenerationsfreudig und verzeihen lange Zeit den Raubbau an ihnen. Ob ein Schaden entsteht, hängt davon ab, wie lange der erhöhte Konsum bestehen bleibt und ob auch vorher schon ein regelmässiger oder erhöhter Konsum, ein sogenannter „riskanter Konsum“ vorhanden war. Im Falle der Bauchspeicheldrüse kann allerdings schon ein einmaliger wesentlich erhöhter Konsum zu einer akuten Entzündungsreaktion führen. Langandauernder Konsum führt möglicherweise zu einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung.

Was geschieht während eines längeren Konsums mit der Psyche?

Herbst: Alkohol hat eine direkte Wirkung auf das Belohnungssystem des Gehirns. Das Gehirn lernt, die Droge Alkohol als Belohnung, Entspannung und Beschäftigung kennen. Dieses System reagiert sehr sensibel und kann durch den regelmässigen Konsum oder durch das Einsetzen von Alkohol im Sinne einer bestimmten zu erfüllenden Funktion umgepolt werden. Das kann dann ohne grosse Vorankündigung zu einer Abhängigkeitserkrankung führen.

Studien zufolge stieg der Konsum vor allem zwischen Ende Februar und Ende März an. Kann man innerhalb eines Monats eine Alkoholsucht entwickeln?

Herbst: So generell kann man das nicht beantworten. Ob das Glas Wein zum Ausklang des Tages oder die Flasche Bier zum Einstieg in den Feierabend: Viele Menschen belohnen sich selbst mit Alkohol. Doch nicht nur die Menge, auch die Regelmässigkeit kann zu einer Abhängigkeit führen. Sucht hat jedoch mit vielen Faktoren zu tun wie unlösbaren Belastungen, Persönlichkeitsproblemen, Suchtstrukturen innerhalb der Ursprungsfamilie, aber auch mit unerfüllbaren Ansprüchen an sich selbst oder nicht abgeschlossenen Entwicklungsschritten in der Kindheit. Sinnverlust im Leben kann ein Faktor sein, aber auch Gewöhnung durch Spass.

Viele Menschen konsumieren Alkohol, um ihre Ängste und Sorgen auszublenden. Bleibt das Gefühl auch bei regelmässigem Konsum vorhanden?

Herbst: Regelmässiger Konsum führt zu Gewöhnung und Gewöhnung führt zu mehr Trinken. Der Zweck, für den der Alkohol ursprünglich genutzt wurde, nämlich Ängste und Sorgen auszublenden, bleibt bestehen, doch man benötigt immer mehr Alkohol, um tatsächlich zu diesem Ergebnis zu kommen. Im Vordergrund stehen dann aber die negativen Auswirkungen des Alkohols auf Psyche und Körper.

Ab wann kann man von einem Alkoholproblem sprechen?

Herbst: Wir unterscheiden den riskanten Konsum von der Abhängigkeit. Erste Anzeichen sind, dass die Gedanken täglich und oft um die Alkoholaufnahme kreisen. Dies kann sowohl die Beschaffung von Alkohol oder auch die Verheimlichung des Konsums betreffen. Antriebslosigkeit und Desinteresse an sozialen Kontakten, am familiären oder beruflichen Umfeld können hinzukommen.

Kann man ohne Hilfe von einer beginnenden Sucht loskommen?

Herbst: Ja, vor allem dann, wenn es erst ein riskanter Konsum ohne Abhängigkeit ist. Der Übergang ist aber fliessend und es gibt keine Kriterien, die einem zuverlässig sagen, „Achtung, jetzt bist du bereits auf der Kippe“. Professionelle Hilfe im Rahmen unserer Suchthilfesysteme (Beratungsstellen, Ärzte, Therapeuten) ist jedenfalls niedrigschwellig, das heisst, sie kann von jedem in Anspruch genommen werden. Auch Arbeitgeber haben oftmals einen Suchtberater im Haus. Eine Beratung wäre immer hilfreich. Dort bekommt man dann auch einen besseren Einblick in den eigenen Zustand.

Rechnen Sie durch den vermehrten Alkoholkonsum in den vergangenen Monaten zeitnah mit einem Patientenandrang?

Herbst: Da Patienten immer wieder als Argument für einen höheren Alkoholkonsum die Vereinsamung durch den Lockdown und die Angst um die wirtschaftlichen Folgen anführen, ist ein bevorstehender höherer Patientenandrang gut vorstellbar.

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