Stubaital: Genuss ohne Reue

Im Stubaital treffen zwei Welten aufeinander. Wo Genusswanderer unterwegs sind, treten Athleten beim Ultratrail an, einem der härtesten Rennen der Alpen.

Die Stubaier Alpen in Zahlen: 80 Gletscher, 109 Dreitausender, 840 Kilometer Wanderwege allein im Stubaital. Neben Genusswanderern sind dort einmal im Jahr mehr als 400 Starter beim Ultratrail unterwegs, der über 63,1 Kilometer von Innsbruck bis nach ganz oben auf den Stubaier Gletscher führt. In einer faszinierenden Landschaft kreuzen sich die Wege von Bergfreunden, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Eine Spurensuche.

Der Stern Andreas ist einer fürs Leichtgewicht. Geschätzte Einssiebzig, um die 60 Kilo, hager und sehr, sehr sehnig. Gemeinsam mit seinem ein Jahr älteren Bruder Florian ist Andreas (53) auf der Schlickeralm im hinteren Stubaital aufgewachsen, auf 1’600 Meter Höhe. Dort haben sie Kühe und Schafe gehütet, was nicht die schlechteste Voraussetzung war, als Zwanzigjährige zum Berglauf zu finden – und im fortgeschrittenen Alter letztes Jahr beim ersten Stubai Ultratrail anzutreten. 63,1 Kilometer, Start Landestheater Innsbruck um ein Uhr nachts mit Stirnlampe, Ziel „Jochdohle“ ganz oben in 3’150 Meter Höhe am Stubaier Gletscher bei Schneetreiben. Dazwischen: 5’075 Höhenmeter rauf, 2’512 Höhenmeter runter. Ein Martyrium. Ein Martyrium? Andreas lächelt: „Es war traumhaft. Ich habe jeden Kilometer genossen.“ Nach neundreiviertel Stunden war er als 17. im Ziel, eineinviertel Stunden nach dem Sieger. Nächsten Samstag, beim 2. Ultratrail, kann Andi zu seinem grossen Bedauern nicht dabei sein, ein Knie zwickt.

Es geht auch gemütlicher. Immer wieder kreuzt die Route des Ultratrail traumhafte Wanderpfade, Naturerlebnisse und Almhütten im Stubaital. Auch Andi Stern, der letzte Pächter in der Familie nach 62 Jahren Schlickeralm, lässt es heute ruhiger angehen. Auf den Spuren der Alpen-Masochisten besuchen wir ihn im kurz nach Neustift gelegenen Marend Stüberl Klaus Äuele, deren Wirt er jetzt ist. Vor der Terrasse liegt ein Kids Park mit Abenteuer-Spielplätzen und Planschteich, prächtiges Grauvieh, wie man die Kühe der Region hier nennt, grast auf saftig-grünen Wiesen. Auch hier hasten die Dauerläufer vorbei, auf der gegenüber liegenden Talseite. Die Familienidylle lassen sie links liegen.

80 Gletscher und die Seven Summits Stubai

Ein paar Kilometer vorher haben die Läufer bereits die Hölle passiert – oder jedenfalls das, was sich der Normalo darunter vorstellt. Die Tortur beginnt in Telfes (987 Meter) und endet nach 11,5 Kilometern auf dem Kreuzjoch (2’136 Meter). Es ist die Route des traditionellen Schlickeralmlaufes, der Ende Juli zum 30. Mal stattfindet, für die Ultraläufer aber nur eine Teiletappe ist. Wir nehmen lieber eine Gondel der Kreuzjochbahn im Wanderzentrum Schlick 2000 und ab der Bergstation die Spur wieder auf. Aber wo die Kollegen aus der Abteilung Hochleistungssport auf Zeitjagd sind, gönnen wir uns bei der zweistündigen Wanderung auf die Starkenburger Hütte genussreiche Seitenblicke. Zu unseren Füssen blühen Enzian, Dotterblumen und Erika, im Panoramablick reihen sich die sieben Gipfel der Seven Summits Stubai auf zur steinernen Parade. Von links nach rechts Serles, Elfer, Habicht, Wilder Freiger, Zuckerhütl, Rinnenspitze und Hoher Burgstall. Letzterer war übrigens einst ein Trainingsberg des legendären Everest-Erstbesteigers Sir Edmund Hillary, weshalb es dort einen Hillary Step gibt. Aber das nur nebenbei, denn die Seven Summits Stubai geben ein spektakuläres Bild ab, das nirgendwo schöner zu betrachten ist als vom Naturschauplatz Gletscherblick bei der Starkenburger Hütte.

Zehn dieser Aussichtsplattformen gibt es im Stubaital, und dieser Schauplatz heisst so, weil er den Blick auf die über 80 Gletscherfelder der Umgebung bietet. Das ist ein betörend schöner Genuss für die Augen, der für den Magen folgt. Der Speckknödel schmeckt schon hervorragend, aber der Kaiserschmarrn mit Apfelmus von Hüttenwirtin Karin ist der Hit. Da hält sich unser Bedauern, dass die Starkenburger Hütte in ein paar Tagen eine so genannte Labstation beim Ultratrail sein wird, in Grenzen. Energydrinks, Müsliriegel, vielleicht ein Wurstbrot. Sie haben es so gewollt.

Ortswechsel. Mit einem ultramässigen Muskelkater in den Waden und Oberschenkeln nach einem als ultralange empfunden Abstieg zur Mittelstation Froneben und der lebensrettenden Taxifahrt zurück ins Hotel. Das war gestern, heute hilft gegen den Schmerz, logisch – eine kleine Wanderung. Der Wilde Wasser Weg soll es richten, ein weiteres Naturschauspiel im Stubaital. Mit einem Hauch von Poesie wird er dort als „Reise eines Wassertropfens vom Ursprung im Eis bis zum reissenden Bach“ beschrieben.

Genuss-Wandernacht am Wilde Wasser Weg

Für Wanderer führt diese Reise, aufgeteilt in drei Etappen über insgesamt elf Kilometer, von Ruetz Katarakt über den Grawa Wasserfall bis hinauf zum Gletscher Sulzenauferner. Wir beschränken uns – gezwungen durch körperliche Gebrechen – auf die feuchten Genussmomente, die uns zuerst in einer Schlucht begegnet, in der stilles Rinnsal zum reissenden Wildbach wird. Es ist eine faszinierende Begegnung mit den Naturgewalten, die durch steile Treppen und Verengungen entstehen und das Wasser Fahrt aufnimmt, bis es sich tosend abwärts ins Tal bewegt. Dort unten liegt dann die Wilde Wasser Arena, ein ehemals unwirtlicher Steinbruch, aus dem die Stubaitaler Tourismusmanager eine traumhaft schöne grüne Oase gemacht haben. Die ist auch das Ziel einer Genuss-Wandernacht am 20. Juli, deren Weg von Stationen mit Attraktionen wie Feuerschluckern oder einem Konzert mit Wasserflaschen gesäumt ist, ehe in der Arena Gourmet-Buden und Getränkeständen warten.

Der gesunde Spray des Grawa Wasserfall

Eines der meistfotografierten Motive der Alpen, den Grawa Wasserfall, ist etwas weiter oben zu besichtigen, sein feiner Tröpfchenstaub gilt gar als gesundheitsfördernd für die Atemwege. Deshalb stand unterhalb ein anderer Naturschauplatz, auf dessen Plattform in der Hochsaison durchschnittlich 2.100 Besucher täglich die Breite des Wasserfalls von über 80 Metern und Fallhöhe von gut 180 Metern bewunderten. Die Plattform wurde im vergangenen August durch ein Unwetter zerstört, eine neue wird schon im Herbst wieder aufgebaut sein. Vorerst ist der Weg über eine kleinere Brücke aber trotzdem passierbar.

Auch der Wilde Wasser Weg ist Teil des Ultratrails, dort bereiten sich die Teilnehmer mental auf die letzten acht Kilometer vor, die über den Gletscher hinauf zum Ziel führen. Natürlich nehmen wir wieder die ungleich komfortable Gondelbahn, und an der Dresdner Hütte neben der Mittelstation Fernau verfolgen wir auf 2’300 Metern Höhe den schmalen Pfad des Ultratrails, der sich in Serpentinen windet, bevor er sich im ewigen Eis verliert. Der Gedanke, sich dort hinauf nach über 50 Kilometern nochmals schinden zu müssen, lässt uns frösteln. Und auch die Temperaturen, die hier oben im Juni nur bei wenig über Null liegen.

Drei Sterne für die Tschangelair-Forelle

Da fühlt sich die gewöhnliche Couchpotatoe im Ambiente einer Tschangelair Alm erheblich wohler. Die liegt bei der Rückfahrt vom Gletscher links am Strassenrand, ihr Name heisst aus dem Rätoromanischen übersetzt „schönes eingezäuntes Plätzchen“, und genau das ist diese über 300 Jahre Alm auch. Zu ihr gehören freilaufende Ziegen und vier Becken zur Forellenzucht, und wer Köstlichkeiten wie den hausgemachten Ziegenkäse nicht probiert hat, ist selbst schuld. Geradezu sensationell aber schmeckt die in Almbutter gebratene Forelle, schlicht serviert mit Kartoffeln und Salat. Das sind drei Sterne für die ehrlichste Küche, die es gibt.

Für den Verdauungsspaziergang danach bietet sich der Weg gleich über der Strasse an, der zum Langetalbach führt. Das ist wie eine Runde im Märchenwald, vorbei an kleinen Wasserfällen, begleitet von Bachrauschen und Vogelgezwitscher. Ein perfekter Ort, um sich im Gras niederzulassen und zu relaxen. Und während ich das tue, fällt mir der Stern Andreas ein, den ich am Ende unseres Gesprächs an der Läuferehre packen wollte: „Jetzt mal ehrlich: Wie war das nochmals mit dem Genuss beim Ultratrail?“ Und der Andi antwortet tatsächlich: „Auf den letzten Kilometern bis zum Ziel ganz oben auf dem Gletscher hatte ich ein Lächeln im Gesicht.“ Wie unterschiedlich Menschen doch geniessen können.

Weitere Informationen: www.stubai.at

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